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Der König der Autoscooter

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Der Sommer war sehr lang: Zehn Volksfeste hat der Münchner Schausteller Heiner Distel, 29, gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Freundin bereist. Seit vielen Jahrzehnten baut die Familie in Städten in Bayern und Hessen ihren Autoscooter auf, um ihn spätestens 16 Tage später wieder abzubauen. Nun ist Heiner wieder zu Hause und schaut auf die Saison zurück.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

jetzt.muenchen: Heiner, es gibt da eine Zeit in der Pubertät, in der ist der Autoscooter ein zentraler Ort. Jungs flirten zum ersten Mal mit Mädchen und ringen mit sich, ob sie ihren Schwarm zu einer Fahrt einladen. Ist dir bewusst, welche Rolle dein Fahrgeschäft beim Erwachsenwerden und beim ersten Verlieben spielt? Heiner Distler: Natürlich! Auf dem Straubinger Gäubodenfest zum Beispiel schaut jedes Jahr ein bestimmtes Paar bei mir an der Kasse vorbei – die haben sich vor zehn Jahren bei mir kennengelernt. Wie? Er hatte damals ausgeholfen und ganz klassisch mit dem Schlüssel für den Chips-Einwurf die Autos eingeparkt. So hat er seine Frau kennen gelernt. Jetzt sind sie verheiratet und haben zwei Kinder. Der Junge mit dem Schlüssel ist sowas wie der King of Autoscooter, oder? Daran hat sich bis heute nichts geändert. Auf Volksfesten liest man immer das Schild.... ... „Junger Mann zum Mitreisen gesucht.“ Ist es heute schwieriger, Leute für die Arbeit zu finden? Das ist sauschwierig geworden. Keiner will den ganzen Sommer weg von zu Hause sein und dann kommt hinzu, dass man unsere Arbeitszeiten mit denen von der Gastronomie vergleichen kann. Außerdem musst du auf Zack sein. An so einem Tag läufst du schon deine zehn Kilometer und musst immer zusehen, dass du nicht mit den Füßen irgendwo dazwischen kommst. Das ist harte Arbeit. Sitzt du selbst an Kasse und Mikrofon? Ja, aber meine Eltern, meine Freundin und ich wechseln uns ab. Lockst du die Leute auch mit den hallenden Ansagen á la „Einsteigen, einsteigen, los gehts“? Wir beschränken uns beim Autoscooter auf’s Nötigste. Die Jungs stehen da, um Musik zu hören. Wenn ich die ganze Zeit durchquasseln würde... Was war der Song des Sommers? „Das geht ab“ von Frauenarzt. Ich kann’s nicht mehr hören. Du sprichst von den „Jungs“, die da stehen. Wer sind deine Kunden? Nur die Teenager? Schon. In München auf der Wiesn merkt man das weniger, weil da viele Touristen sind. Aber gerade in Rosenheim und Straubing – die Feste sind in der Sommerferienzeit – da steht die Jugend von elf Uhr morgens bis abends bei uns. Die stehen bei uns an den Geländern rum und hören Musik und unterhalten sich. So kriegst du auch die Beziehungsdramen in den Cliquen mit, dann heult wieder eine... Greifst du ein? Manchmal muss ich, da werde ich ein bisschen zum Sozialarbeiter. Und der Autoscooter ist das Jugendzentrum.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Du hast in deinem Kassenhäuschen den besten Blick: Ist es immer noch so, dass die Jungs lenken und die Mädchen die Beifahrer sind? Ja. Keine Emanzipation im Autoscooter? Nein. Die Geschlechterverhältnisse werden offenbar früh eingeschleift. Nach der zehnten Klasse bist du vom Gymnasium ab und 1998 in den Betrieb deiner Eltern eingestiegen. Was hat sich seitdem auf den Volksfesten geändert? Hm, dieses Abfeiern, dieses bewusste „aus dem Alltag Rausgehen“ – das ist in den Vordergrund gerückt. Trinken die Besucher mehr? Das meinte ich. 2009 war das erste Krisenjahr. Was hast du davon gemerkt? Ich bilde mir ein, dass wir es positiv gespürt haben. Die Leute sind verunsichert und zu Hause geblieben, statt in den Urlaub nach Marokko zu fliegen. Was kostet ein Chip? Zwei Euro. Ist schon teuer, findest du nicht? Naja, Moment: Vier Chips kosten fünf Euro und zehn Chips kosten zehn Euro. Und das Standgeld, also die Platzmiete, die ist auch immer die gleiche – egal, ob die Sonne scheint oder ob es zehn Tage regnet, die Gebühr muss bezahlt werden. Wieviele Fahrchips habt ihr? Um die 10 000. Ich habe selbst von früher noch alle möglichen Chips zu Hause, die ich nie benutzt habe. Habt ihr viel Schwund? Wahnsinnig viel. Jedes Jahr verschwinden bestimmt 3500 Chips. Aber die Leute heben sie auf. Wir haben vor sechs Jahren das Format gewechselt und immer noch tauschen wir alte Chips um. Eine praktische Frage: Darf ich den Chip wirklich erst nach dem Signalton einwerfen? Wenn die letzte Fahrt zu Ende ist, wird automatisch der vorherige Chip in den Kasten im Auto geworfen. Direkt danach könnte man schon den nächsten Chip rein drücken. Man muss nicht warten bis zum Signal, aber ich sage halt immer: „Bis zum Signal warten, dann reindrücken“, um sicherzugehen, dass nicht doch noch einer während der letzten Fahrt den Chip rein drückt. Der würde dann durchfallen. Wo kauft man eigentlich einen Autoscooter? Unserer ist aus Norditalien. Mit den Leuten aus der Firma bin ich mittlerweile befreundet: Als sie vor drei Jahren unseren neuen Autoscooter gebaut haben, war ich zwei Monate in Italien mit dabei. Die liefern die in die ganze Welt – nach Australien, nach Venezuela, nach Mexiko... Was kostet ein Auto? Gut 4 000 Euro. Und wie oft musst du sie tauschen? Alle fünf, sechs Jahre. Die würden zwar zehn Jahre halten, aber du brauchst diesen Neuheits-Effekt. Wir in unserem Alter achten da nicht mehr so drauf, aber die Zwölfjährigen sind schon beim Aufbauen da! Sobald hinten am LKW die Klappe aufgeht, schauen sie, ob es was Neues gibt. Die fragen mich ganz gezielt, wann genau wir die Autos ausladen, weil sie dabei sein wollen. Das letzte Volksfest des Jahres war für dich in Bad Hersfeld, seit kurzem bist du wieder in München. Ist es komisch, nur an einem Ort zu sein? In Bad Hersfeld freue ich mich jedes Jahr so auf zu Hause, das kann sich keiner vorstellen. Wenn du so lange nicht in deiner Wohnung warst und dann nach Hause kommst – das ist so schön! Was machst du dann? Das, was ich den ganzen Sommer über nicht kann: Ausschlafen.

Text: peter-wagner - Fotos: Jürgen Stein

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