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Der letzte Grantler

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Toni stellt die Flasche kopfüber im Glas ab, alles bläht sich, wird zu Schaum und läuft über die Ränder. „Soviel Schaum wie möglich,“ sagt er, und es klingt wie eine trotzige Antwort, „ist doch ein gutes Weißbier.“ Unter seinen Augen hängen Tränensäcke, der Gang ist müde. Schneeweiße Haare bedecken den birnenförmigen Kopf. Toni setzt sich wieder hin. Unzählige Male hat der 70-Jährige in seinem Leben eingeschenkt, aber heute, heute mag er einfach nicht mehr.
Kaum ein Lichtstrahl findet den Weg in diese 20 Quadratmeter, dafür hat Toni gesorgt. Erst ließ er Kletterpflanzen in der Auslage wuchern, damit die Leute nicht reinglotzen, dann riss er die Ranken ab und baute sich eine neue Mauer aus leeren Jägermeister-Flaschen, H-Milchtüten und Erbsensuppendosen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


„Bei Toni“, halb Straßenkiosk, halb Eckkneipe, liegt wie ein trauriger Fleck in der Barer Straße 75, Maxvorstadt. Schräg gegenüber hat vor kurzem ein Ökocafé aufgemacht, im Umkreis weniger Meter gibt es eine Donutbäckerei und eine Gesundheitsdrogerie. Die Leute, die aus der Tram 27 aussteigen, könnten Tonis Tür aufstoßen, unter dem dunkelbraunen Vorhang durchgehen und in der Mittagspause eine Halbe bestellen, und nach Feierabend noch eins. „Früher haben die Leute zehn Bier an einem normalen Arbeitstag getrunken“, erzählt Toni in breitem Bayerisch, und weil das heute keiner mehr macht, stehen die Leute nur draußen, klopfen gegen Tonis Schiebefenster, zersprungen, 50 mal 50 Zentimeter groß, und sagen „Gauloises, die roten“ oder „OCB, die langen“.

Sie fluchen, aber sie kommen wieder
Er wechselt die Barhocker; mal sitzt der Toni neben der Toilettentür, mal mit dem Rücken zum Spielautomaten, mal die Ellenbogen an die Zapfanlage gelehnt. Gelegentlich schläft er mit dem Kopf auf dem Tresen. Seit 1991 sitzt Anton Huttenlochner so da, zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, an Feiertagen, an Heiligabend und Silvester. Wenn im August schon in der Früh die Luft in der Stube 38 Grad heiß ist, setzt er sich auf die Bank vor dem Laden. Jetzt, da draußen fast der Atem gefriert, wählt er den Hocker im hinteren Eck, da, wo es nicht zieht.
Bayern schlägt sich wacker im Kampf gegen moderne Ladenöffnungszeiten. Toni schließt um 22 Uhr, zwei Stunden später als Tengelmann und REWE, das sind in dieser Stadt zwei Stunden Glück für ihn. Besonders beliebt ist sein Lockangebot „Jedes sechste gleichpreisige Getränk gratis“. Sechs Augustiner zum Preis von fünf, das finden sie fair, die Studenten aus dem Viertel. Wäre der Toni nur nicht so ein Griesgram. Auf „Servus“ erwidert er ein grimmiges „Vierneunzig“. Wer ein Helles mit Fünf-Cent-Stücken bezahlen will, dem schleudert er die Münzen entgegen und sagt „Verpiss dich“. Die Leute fluchen, aber sie kommen wieder. Bis zur nächsten Tankstelle müssen sie zwei Kilometer laufen.
Heute geht die Tür auf, es kommen drei Männer in Barbourjacken, deutlich angetrunken, Typ Wirtschaftsprüfer Ende 40. Einen Absacker nach einem Firmenumtrunk verlangen sie. Der Brillenträger brüllt „Servus Toni!“ Sein Kumpel befingert die Jukebox und wirft unter freudigem Aufjuchzen einen Euro ein. Die „Zillertaler Teufelsgeige“ ertönt. „Sowas wie das hier gibt's doch gar nicht mehr“, sagt der eine und liest aus den eingerahmten Sprüchen vor. „Mia reden boarisch“ steht da und „Ich dir pumpen du nix wiederkommen“. Es riecht nach altem Waschmittel. Wahrscheinlich weiß er nicht, dass die Gäste ihn nur als den Grantler-Toni wahrnehmen, dass sie ihn mit demselben postmodernen ironischen Gestus besuchen, mit dem Innenstadtmünchner Anfang 20 auf der Wiesn Bundhosenstrümpfe tragen oder sich zu „Monaco Franze“-Parties treffen. Toni schweigt und wölbt seinen Bauch unter dem verfilzten Zopfpullover.
„Nur Arbeit, kein Spaß“, sagt er. Im Alter von sechs Jahren zieht Huttenlochner, Kind von Arbeitern, alleine durch die Kriegstrümmer in Pasing und sammelt Buntmetall und Radioteile. Er ist tüchtig, verkauft Kupferdrähte zu 5,80 Mark das Kilo, fängt Fische im Starnberger See, der damals noch Würmsee heißt. Als Tennisbub heuert er bei stationierten GIs an, von seinem verdienten Geld kauft er sich sein eigenes Rad. Eine Sensation in der Schule, „mit einem richtigen Schlauch, die anderen hatten nur umgebaute Autoreifen“. Im Wirtschaftswunderjahrzehnt packt er Ziegelsteine und rührt Beton an. Dann, frisch verheiratet, hat Toni keine Lust mehr, auf sein Gehalt zu warten und beschließt einen Beruf zu ergreifen, in dem man das Geld gleich bar auf die Hand kriegt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


In den nächsten 20 Jahren führt er insgesamt sechs Wirtschaften nacheinander. Toni sperrt morgens um acht auf und gegen ein Uhr nachts zu, seine Frau deckt auf und macht Knödel. „Der Grüne Baum“, sein erstes Lokal im Vorort Gröbenzell, läuft zunächst gut. Kriegsveteranen aus beiden Weltkriegen treffen sich bei Toni, Vogelzüchter und Fußballvereine. Wenn Sommerfeste anstehen, bestellt er 2 000 Weißwürste und ruft die Hendlbraterei an. Schnell kann man Millionär werden, denkt er. Es ist 1971, München deliriert im Olympiarausch. Die Mädchen aus dem Dorf zieht es in die große Stadt. Sie wollen in den Hotels und Diskotheken im Zentrum arbeiten, aber sicher nicht im „Grünen Baum“. Deutschland, deine Vollbeschäftigung: Toni findet keine Kellnerinnen mehr und schließt.
Huttenlochner wandert als Wirt von Stadtteil zu Stadtteil, alle drei Jahre geht wieder ein Laden zugrunde. Mal legt er sich mit dem Verpächter an, mal schreibt er nur rote Zahlen. 1982 ist Toni nach Pasing zurückgekehrt, wo er den „Schwarzen Adler“ leitet. Kohl ist gerade Kanzler geworden und fordert die Bevölkerung dazu auf, „den Gürtel enger zu schnallen.“ Bis zum Winter droht die Zahl der Arbeitslosen auf 2,5 Millionen zu steigen; die Eisenbahner und Fabrikarbeiter aus der Gegend haben Angst. Im Frühling muss Toni Strafe an Löwenbräu zahlen, weil er nur noch 298 Hektoliter im Jahr ausschenkt, statt wie vereinbart 400.

„Zu 80 Prozent Fleisch“
Ende der Achtziger folgt der Biergarten „Südwest 54“ am Flaucher. Seine Frau hält den Sommerbetrieb an der Isar nicht lange durch, sie will lieber weniger arbeiten und einen Ruhetag. Er ist einverstanden. Im „Heckerkeller“ in Grafing, Gartenwirtschaft mit Kinderspielplatz, nehmen sie sich montags frei.„Und wenn mich die Gäste angehustet, angeraucht, angekotzt haben, hab ich mich in die Küche verzogen“, erzählt Toni. Gerade, als sie endlich zur Ruhe kommen, stirbt seine Frau. „Danach war mir alles wurscht.“
Von einem Bekannten hört er, dass das „Barer Getränke“ in der Maxvorstadt frei ist. Er unterschreibt den Vertrag und sperrt sich ein.
Der Zettel hängt immer noch da. „Imbiss: Maultaschen und Debreziner“ steht in vergilbter Handschrift geschrieben. Eigentlich müsste er mal weg. Seit Jahren hat schon keiner mehr etwas zu essen bestellt und Maultaschen hat er gar keine mehr. Toni macht den Kühlschrank auf und zeigt sein letztes Laster. Ein Klotz Schweinehals mit weißen fettigen Furchen. Von einem Kilo kann er sich drei Mahlzeiten machen, rechnet er vor. „Als Steak, geschnetzelt, gekocht, paniert. . . Die Möglichkeiten sind unendlich!“
Er zeigt auf die verschiedenen Tablettendosen auf dem Regal. Zur Blutverdünnung muss er sie nehmen, seine Herzgefäße sind verstopft. Darf er eigentlich nicht, sagt er, aber „ich esse zu 80 Prozent Fleisch.“ Ein kurzes Zwinkern flackert in seinen Augen auf. Endlich lächelt er.
Vor dem zersprungenen Fenster laufen dick eingemummte Menschen vorbei. Sie schieben Kinderwagen und tragen ihre Einkäufe nach Hause. Das Glas haben Jugendliche vor Monaten eingeschlagen, sagt er, irgendwann im Sommer wird er es reparieren. Toni schaut nicht hinaus. Eine Alternative? Er schnaubt durch die Nase. „Die Kollegen hocken daheim und verkalken vorm Fernseher.“
Dann vergeht der Abend und niemand klopft mehr an die Scheibe. Toni sitzt es aus.

Text: xifan-yang - Fotos: Juri Gottschall

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