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Der Mann, der die Viren liebt

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Und dann gibt es da noch den Brief von dem Herren, der seiner Handschrift nach zu urteilen nicht mehr der jüngste ist. Er gratuliert zwar höflich zum großen Erfolg, weist aber auf das Sprichwort hin, laut dem gegen jedes Zipperlein ein Kraut gewachsen sei. Das könne man nachlesen. Im Falle von AIDS handele es sich um Gingko.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

In Ulm, um Ulm und um Ulm herum ist Michael Zuhause, seine Forschungen machen ihn in aller Welt bekannt, Fotos: Peter Wagner Michael Schindler hat in den vergangenen Wochen mehr Post bekommen als üblich. Der 28-Jährige hat erforscht, warum Affen nicht an AIDS erkranken, Menschen aber schon. Aus der rechten Tasche seiner tief sitzenden Cargo-Hose baumelt ein Schlüsselbundband, Michael öffnet Tür um Tür im an Türen reichen Institut für Virologie der Uniklinik Ulm. An den Wänden dokumentieren Poster mit komplizierten englischen Titeln und Graphiken die Forschungsarbeit der Abteilungen. Hinter einer Glastür tragen zwei Frauen mit Mundschutz kleine Gläschen mit den Viren in Händen, die AIDS auslösen. Mit seinem Millimeter-Haar sieht Michael aus wie der Chef des örtlichen Studiengebühren-Boykott-Büros, dabei bekommt Dr. Schindler am Mittwoch für seine Arbeit den höchstdotierten deutschen Preis für Nachwuchswissenschaftler: 60.000 Euro, Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Nachwuchspreis, Verleihung in der Frankfurter Paulskirche. Michael geht durch die Büros und sucht das Ergebnis seiner Forschung, ein 16-seitiges Manuskript, veröffentlicht in der wissenschaftlichen Zeitschrift Cell. Je bedeutender ein Ergebnis ist, desto größer die Chance, es in einer wichtigen Zeitschrift zu veröffentlichen. Und wichtig ist eine Zeitschrift, wenn viele Wissenschaftler aus ihr zitieren. Cell gehört zu den Wichtigsten. In einem Schrank im Chef-Büro findet Michael den Sonderdruck der Veröffentlichung. Auf Seite eins steht ein Satz, so lang, dass man, wenn man ihn aufsagt und dabei geht, acht Meter weit kommt: Nef-Mediated Suppression of T-Cell Activation Was Lost in a Lentiviral Lineage that Gave Rise to HIV-1. Michael sitzt jetzt in einem Seminarraum und hebt zur Erklärung an, in der Hand eine Tasse mit Mineralwasser. Es gibt den HI-Virus, der beim Menschen AIDS auslöst, eine Krankheit, die den Körper so schwächt, dass er nicht mal mehr Schnupfenerreger vertreiben kann. Vor langer Zeit haben Schimpansen den Virus auf den Menschen übertragen. Aber warum, das haben sich viele Wissenschaftler gefragt, erkranken die Affen nicht an AIDS? Michael hat viele infizierte Zellen verglichen und herausgefunden: Nach der Übetragung hat sich ein Eiweiß am Virus verändert. In der Ursprungsversion schützt es den Affen vor dem Ausbruch der Krankheit. AIDS ist eine gemeine Krankheit, weil das Virus sein Erbgut in jede menschliche Zelle einschleust. Um einen Men-schen zu heilen, müsste man das Zeug eigentlich aus jeder Zelle entfernen. Das ist im Moment utopisch. Also konzentrieren sich die Forschers auf einen Impfstoff. Vor einer Woche war Michael auf dem wichtigsten Treffen von HIV-Forschern weltweit. Eine der Erkenntnisse: Die Versuche mit aktuellen Impfstoffen laufen nicht besonders gut. „Kurzfristig ist kein Impfstoff in Aussicht“, sagt Michael. Das Virus ändert sich schnell, so schnell kann man Impfstoffe nicht anpassen. Doch immer wieder von neuem keimt Hoffnung. Vor ein paar Wochen wurde ein wissenschaftlicher Beitrag veröffentlicht, in dem steht, dass es auf dem Virus einen Bereich gibt, der scheinbar unveränderlich ist. Und gegen diesen Bereich gibt es auch einen Antikörper. Eine Chance? „Der allerallererste Schritt zu einer Chance“, sagt Michael. Birgt seine Entdeckung eine Chance? Vielleicht. Michael weiß jetzt, dass das Immunsystem der Affen sehr cool mit dem Virus umgeht. Es toleriert ihn einfach und versucht nicht, ihn zu bekämpfen. Vielleicht entsteht aus der Erkenntnis ein neuer Ansatz. Michael stammt aus Ulm und während andere ihre Exzellenz mit vor Ortswechseln berstenden Lebensläufen zu beweisen versuchen, kann Michael hinter jede der Stationen Kindheit, Schule, Universität, Promotion und Nach-Promotionsstelle die Ortsmarke Ulm schreiben. Die Eltern stellen ihn nach dem Abitur vor die Wahl: In Ulm studieren, weiter zu Hause wohnen und von den Eltern unterstützt werden. Oder woanders studieren und nicht unterstützt werden. Er bleibt in Ulm. „Es war eine Druckentscheidung“, sagt Michael. Er bekommt den Biologie-Studienplatz, kriegt sich aber schon im ersten Semester mit den Eltern in die Haare und zieht aus. Und verdient seinen Unterhalt eben selbst. Im Studium lernt er, wenn man das so salopp sagen kann, die Viren lieben und diplomiert als einer der ersten an der neuen HIV-Abteilung am Institut für Virologie. In Ulm. „Scheiß egal, wie das im Lebenslauf aussieht. Hier sind die Arbeitsbedingungen am besten.“ „Für manche scheint das sehr ungewöhnlich zu sein – am gleichen Platz geblieben und doch erfolgreich“, sagt Michael. Seine Arbeit brachte ihm den Stolz seiner Eltern, mit denen er übrigens schon lange wieder gut ist. Sie brachte ihm das Staunen der Kollegen: In vier Jahren veröffentlichte er 15 Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften. Selbst für acht Jahre Arbeit wäre das eine höchst stattliche Zahl. „Ich habe das Glück, an einem Thema zu arbeiten, das die Fachwelt interessiert.“ Die Rede von den Viren, von SARS, AIDS oder der Vogelgrippe entzündet in den Menschen diffuse Ängste, sie erzeugt Interesse und öffnet die Kassen der Geldgeber. So. Michael ruckelt nach einer Stunde Gespräch auf dem Stuhl. „Gerade in den letzten Tagen stellt sich bei mir schon Unzufriedenheit ein“, sagt er. Ja, er freut sich auf die Preisverleihung. Aber er freut sich auch auf danach. Dann endet die Aufregung um den Preis, dann sieht er Tochter und Freundin wieder öfter, dann kehrt er ins Labor zurück. Endlich. Seine Antworten haben Fragen aufgeworfen, an denen er mit dem gewonnen Geld forschen will. Vielleicht, in ein paar Jahren, als Leiter einer Forschungsgruppe. „Solange es keinen Impfstoff gibt, nimmt die Forschung ja kein Ende.“ In einer Mail an Michael zweifelt ein Mann die Notwendigkeit der AIDS-Forschung an. Man wisse doch, dass die Krankheit von den USA als Biowaffe lanciert worden sei. Der Virus ist nicht das einzige Problem, dem sich HIV-Forscher gegenüber sehen.

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