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Deutschland hat den Superstar

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Youtube ist sein einziger Beweis. Raid hält das iPhone waagerecht zwischen Daumen und Zeigefinger. Auf diesen 41 Quadratzentimetern will er zeigen, wer er ist. Zu sehen ist ein junger Musiker auf der Bühne eines Fernsehstudios. Der dunkelhaarige Mann mit einer Oud, einem gitarrenähnlichen Instrument, singt auf Arabisch von Bagdad. Lange Blenden, viel Weichzeichner, ein wenig Kitsch. Im Publikum sitzt ein Mädchen und weint. Auch eine Jurorin wischt sich über die Augen. Die Show, aufgezeichnet 2006, ähnelt dem Format „Deutschland sucht den Superstar“. Der Mann im Video wird die Show später gewinnen, einen Plattenvertrag bekommen und ein Star werden. Der Mann im Video ist Raid.    

Raid Yosif ist 27, aber vielleicht auch zwei Jahre jünger. Die irakischen Behörden nehmen Geburtstage nicht besonders wichtig, Geschwister bekommen oft ein Einheitsdatum. „Im Irak“, sagt Raid, „kennt man mich“. Das Problem ist nur: Er ist nicht im Irak.    

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Raid am Tisch mit Dorothea Grebbin, seiner Ersatzmutter. Er hat sie im Chor kennengelernt.

Der junge Mann mit der aufgetürmten Frisur sitzt an einem Esstisch, vor sich eine Zierdecke, hinter sich ein Setzkasten. Der Tisch und das Wohnzimmer gehören dem Ehepaar Grebbin, zwei pensionierten Lehrern. Ihr Haus steht in Bad Mergentheim, einer Kleinstadt bei Würzburg. Die Grebbins haben Frühstück bereitgestellt, es gibt Semmeln und Leberwurst. Raid isst und spricht nicht viel. Er wirkt schüchtern, auf Nachfragen, wie er denn nun genau von Bagdad nach Bad Mergentheim gekommen ist, antworten oft die Grebbins für ihn. „Mama, das stimmt so nicht“, sagt er dann manchmal zu Dorothea Grebbin und lächelt freundlich. Dabei ist sie nicht wirklich seine Mutter.    

Raids Geschichte beginnt im irakischen Mosul, 350 Kilometer nördlich der Hauptstadt Bagdad. Seine Eltern sind Christen, eine Minderheit im islamisch geprägten Irak. Solange Raid ein Kind ist, macht das keine Probleme. „Saddam Hussein war ein Tyrann“, sagt Raid, „aber nicht gegenüber uns Christen.“ Während der Diktator die Macht hat, ist Raids Leben geordnet. Schon als Kind bekommt er Musikunterricht, ein Lehrer bringt ihn im Chor unter. Raid singt, spielt die Oud und gibt Konzerte. „Ich wollte immer nur singen“, sagt er.   

Das Finale der Show drehen sie im Libanon - Bagdad ist zu gefährlich.


Im Jahr 2006 nimmt er an der irakischen Variante von „DSDS“ teil – und gewinnt. Er ist 19. Zu diesem Zeitpunkt hat die „Koalition der Willigen“ unter Führung der USA sein Land längst überrollt. Mehr als 100 000 Zivilisten sind durch den Krieg ums Leben gekommen, die amerikanischen Besatzer bekommen den Bürgerkrieg nicht in den Griff. Das Finale der Castingshow wird deshalb in Beirut im Libanon gedreht, Bagdad wäre zu unsicher. Kurz nach Raids Sieg wird ein anderes Youtube-Video aus dem Irak um die Welt gehen: die letzten Minuten vor der Hinrichtung von Diktator Saddam Hussein. Ein Sondertribunal hat ihn zuvor zum Tod durch den Strang verurteilt.    

Raid redet nur ungern über die politische Situation in seinem Land. Lieber spricht er von der Zeit als Star. Nur am Rande erzählt er von einem Anschlag, den er in Mosul miterlebt hat, vermutlich eine Autobombe. „Du kannst nicht anders, du gehst automatisch auf die Knie“, sagt er darüber. Trotz aller Unruhen verläuft seine Karriere zwei Jahre lang problemlos. „Viel Arbeit und viel Geld“, sagt er und zeigt einen anderen Clip auf seinem iPhone. Er singt dort für eine schöne Frau, die Haare zerzaust von einer Windmaschine. Das war 2008. „Dann kam die Katastrophe“, sagt Raid.    
Die Stimmung gegen die Christen im Irak kippt. Dschihadisten gewinnen die Oberhand, fordern eine streng islamische Gesellschaft. Der Erzbischof von Mosul wird entführt und ermordet. Die sonst für ihre Toleranz bekannte Stadt wandelt sich zur al-Qaida-Hochburg. Raid und seine Familie werden nicht mehr nur verehrt, sondern auch bedroht. Denn Raid ist prominent, eine Entführung könnte sich lohnen. Hier beginnt seine zweite Geschichte – die Reise von Bagdad nach Bad Mergentheim.    

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ein Bild aus alten Zeiten: Ausschnitt aus einem von Raids Videoclips von 2008.

Diesen Lebensabschnitt muss man sich oft mühsam zusammenpuzzeln. Manches klingt unlogisch, allerdings hat Raid auch Angst, zu viel zu erzählen. „Seine Familie ist ja noch da“, erklärt Dorothea Grebbin und schenkt noch einmal allen Filterkaffee nach. Raid selbst sitzt zusammengesunken in seiner hellen Chino und dem gelben T-Shirt am Esstisch. Diese Klamotten trägt er auch auf den neuen offiziellen Fotos auf seiner Facebook-Fanseite. Ein Freund hat sie gemacht. Im Nahen Osten waren eher weiße Leinenhemden angesagt, hier ist das anders.    

Raid schildert die Situation nach 2008. Menschen, die an Straßensperren entführt werden, kommen darin vor. Freunde, die bei Anschlägen getötet werden. Das Ergebnis dieser Zeit ist, dass Raid wie zahlreiche andere Christen sich zur Flucht entschließt. 100 000 Christen lebten noch vor zehn Jahren in der Millionenstadt Mosul. Heute sind es noch 5 000 – darunter Raids Familie.    

Sein erstes Ziel nach der Ausreise ist Dubai. Hier haben er und die Plattenfirma Freunde. Er wird viel gebucht, tritt nächtelang in Restaurants und Hotels auf. „Wie Wandelhalle“, sagt Raid. Die Wandelhalle ist eine Konzerthalle in Bad Mergentheim, in der er manchmal mit dem Chor „Karibu“ auftritt. Dort lernte er die Grebbins kennen. Mittlerweile übernehmen sie für ihn die Funktion des Managements, des Versorgungsnotnagels und der Ersatzeltern. „Mama und Papa“ nennt Raid sie. Das ist kein Versehen. „Manchmal habe ich das Gefühl, er hat sich uns auch irgendwie ausgesucht“, sagt Dorothea Grebbin, als Raid gerade nicht hinhört. Die eigenen Kinder des Ehepaars sind aus dem Haus, einer mehr macht da auch nicht viel aus.    

In Dubai habe er viel Geld verdient, sagt Raid. Trotzdem muss er wieder ausreisen. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben eine strikte Asylpolitik, um Wirtschaftsflüchtlinge fern zu halten. Raid wird zurück in den Irak geschickt. Sechs Monate lang traut er sich nicht, auf die Straße zu gehen. „Die Leute haben gesagt: ‚Sie haben Raid getötet’, weil ich nicht mehr raus durfte.“

Im Asylantrag schreibt er als Beruf: Sänger. "Dann singen Sie mal", fordert der Beamte.


Ein Pfarrer organisiert Raids Flucht über Beirut und Frankreich nach Deutschland. Der Geistliche stellt auch den Kontakt zu einer Kirchengemeinde in Karlsruhe her, in dieser Stadt beantragt Raid Asyl. Als Beruf gibt er „Sänger“ an. Dass er im Irak ein Star war, ist den Ämtern allerdings ziemlich egal. „Dann singen Sie mal“, sagt der Beamte bei der Ausländerbehörde. „So ein Arschloch“, entfährt es Dorothea Grebbin, als Raid das erzählt, sie haut wütend mit ihrer Hand auf die Tischplatte. Raid ist schüchtern und singt nicht. Bis heute ist es schwierig, dass er als Künstler anerkannt wird. Raid selbst bleibt bei diesen Erzählungen emotionslos. Mittlerweile helfen ihm die Grebbins bei Behördengängen, kümmern sich auch um seinen Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft.    

Er war anderes gewohnt, das Leben eines Popstars. „Schau“, sagt er, „in zwei, drei Monaten ist dein ganzes Leben weg!“ Als er vom Asylbewerberheim in Karlsruhe erzählt, verzieht Raid schließlich doch das Gesicht. Hier hat keiner ein eigenes Zimmer, das Leben funktioniert nach den Regeln des Asylrechts. „Das war nicht meine Welt. Ich hatte viel Geld auf dem Konto. Fünfstellig. Ich habe den Leuten da gesagt: Lieber schlafe ich auf der Straße als in dem Heim.“    
Er kommt bei einem Freund unter. Sieben Monate wohnt er in Karlsruhe. Sein Tag: „Essen, schlafen, Sport“, ein Sänger müsse schließlich gut aussehen. Dann bekommt er die Aufenthaltsgenehmigung und wird nach Bad Mergentheim geschickt. Es ist das Jahr 2010.    

Seitdem lebt Raid in einer eigenen Wohnung. Er finanziert sein Leben durch Hartz IV, besucht oft die Grebbins. Anfangs hat er sie gelegentlich zum Essen eingeladen, ist in andere Städte gefahren und hat kleine Gigs gespielt. Mittlerweile ist das Ersparte alle. Eine Halskette ist eines der wenigen Dinge, die aus seinem alten Leben übrig sind. An feinen Gliedern hängt ein überdimensionaler Zahn. Die Kette trägt Raid in den Musikvideos von damals, aber auch auf den aktuellen Bildern bei Facebook. Darunter schreiben 14-jährige Mädchen auf Deutsch: „Raid, ich liebe Dich!“ Woher sie ihn kennen und warum sie einen irakischen Star anhimmeln, bleibt offen.    

Er will mit deutschem Pass zurück in den Nahen Osten. Dann darf er auftreten, wo er will.


„Meine Fans sind traurig“, sagt Raid. Die im Irak, weil er weg ist. Die in Deutschland, wenn er nicht auf ihre Kommentare bei Facebook reagiert. Auf seiner Pinnwand steht: „Ich würde mich freuen wenn Du meinen Kommi liken würdest.“ Raid liest das langsam vor und stockt: „Kommi?“. Kommi steht im Internet für Kommentar. Raid atmet verlegen durch die Nase aus, eine Mischung aus Scham und Schüchternheit, irgendwie unbeholfen. Man kann verstehen, dass Mädchen ihn süß finden. „Raid trifft die ja gar nicht im echten Leben“, sagt Dorothea Grebbin. Raid schweigt. „Aber könnte er nicht modeln, wenn ihn die Mädchen schon so schön finden?“, setzt sie hinterher. Wie man einen Modelvertrag bekommt, wissen allerdings weder Dorothea noch Raid.    

Als Hartz IV-Empfänger kann Raid theoretisch nicht warten, bis er einen neuen Plattenvertrag bekommt. Also hat er auch körperliche Arbeit angenommen, Kisten geschleppt. Das ging aber schnell in den Rücken, er musste den Job aufgeben. Dafür ist sein Deutsch mittlerweile fast perfekt, die Grebbins müssen nur noch minimale Fehler korrigieren.    

„Videoclip“, sagt Raid immer wieder. Er müsse einen Videoclip machen, damit er wieder ins Gespräch kommt. Aber das ist schwierig umzusetzen, hier in Bad Mergentheim. Neulich hat er Geld an Freunde in Dubai geschickt, die seine Karriere fördern wollen. Bisher ist allerdings nichts weiter passiert. Sobald er einen deutschen Pass hat, soll sich das ändern. Dann will Raid wieder arbeiten. Zurück nach Dubai. Er will wieder dort auftreten, wo seine Musik gut ankommt, dann aber eben als Deutscher. Damit wäre er kein Wirtschaftsflüchtling mehr, sondern dürfte sich seine Konzertziele aussuchen. Wie ein echter Star.    

Momentan überarbeitet Raid seine Musik, singt auch mal auf Englisch. Seinen letzten Auftritt mit dem Chor haben die Grebbins auf CD gebrannt. „Das klingt doch schön, das hat doch Potenzial“, sagt Dorothea Grebbin. Bis das jemand erkennt, trinkt Raid weiter Tee vor dem Setzkasten.


Text: charlotte-haunhorst - und Tim Wessling, Fotos: Tim Wessling, Screenshots: Youtube

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