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Die Mirko-Maschine

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Gerade mal ein Uhr morgens und Mirko Hecktor ist müde. Er schiebt einen Regler am Mischpult nach oben und lässt die Getränkedosen auf der Bar erzittern. Dann reicht er den Kopfhörer an seinen Kollegen und steigt von der DJ-Kanzel, hochgewachsen, hager und im kurzärmeligen weißen Hemd. Ein paar hundert Leute zwängen sich an diesem Freitag im Dezember in die „Elli Disco“, fünf Minuten vom Hauptbahnhof, die meisten sind seinetwegen hier. Hecktor feiert das Release der ersten eigenen Platte, ein großer Moment für einen DJ. Andere tränken jetzt aus Wodkaflaschen oder brüllten in die Menge. Hecktor lässt die Schultern hängen und lächelt gequält. Er treibt durch die feiernde Menge wie ein Gespenst, die Augen auf Halbmast, hier und dort sagt er „Hallo“ und drückt eine Hand. Zwei Tage zuvor: Nach exakt elf Minuten schreibt Hecktor zurück. Zuerst auf Facebook, eine Minute später auch noch per Mail. Ein Porträt über ihn? Klar mache er mit, hier seine Nummer, man solle gleich morgen telefonieren. Mirko Hecktor ist Profi. Als er vor gut einem Jahr seinen Bildband „Mjunik Disco“ veröffentlichte, horchte Deutschland auf: Ein Balletttänzer und DJ, der einen Band herausgab über 60 Jahre Nachtleben der versnobtesten Stadt des Landes? Die Frankfurter Allgemeine, der Spiegel, die Welt und ein halbes Dutzend Hochglanzmagazine verlangten Interviews. Und Hecktor gab sie gern. Der Name funktioniert wie eine Marke Seitdem funktioniert sein Name wie der einer Marke. "Mirko Hecktor" steht groß auf den Plakaten vor Clubs in Hamburg, Frankfurt und Berlin, in München ist er in drei Clubs Resident DJ und seit kurzem einer von drei Chefredakteuren der Szene-Zeitschrift Super Paper. Man kann sagen: Mirko Hecktor, 35, ist seit seinem Buch eine Art Sprecher für das hippe München. „Stimmt“, sagt Hecktor und streift den Schal ab. Gerade hat er die Barfrau umarmt und sich auf die Eckbank gesetzt. „Obwohl ich dieses Label ja nie wollte.“Im Oktober packte das Stadtmagazin Prinz die „20 wichtigsten Münchner“ auf eine Seite – und setzte Hecktors Gesicht als größtes in die Mitte. Viermal so groß wie das von Franz Beckenbauer.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Hecktor kennt die Seite natürlich längst und muss trotzdem grinsen, als sie vor ihm liegt. Hat München auf jemanden wie ihn gewartet? „Wer ein Buch schreibt“, sagt er und streicht sich mit der Hand übers Kinn, „hat eben eine Meinung. Das mögen die Medien. Aber es gibt tausend andere Münchner, die mehr bewegen als ich.“ So klingt gekonnt dosierte Bescheidenheit. Dann spricht er lang und ernst und ohne Unterbrechung über seine Arbeit für die Zeitschrift, das neue Projekt der Marke „Hecktor“. Er sagt Sätze wie: „Das muss diskursmäßig noch krasser reinknallen“, lässt Worte fallen wie „Dispositivansatz“ und zitiert Foucault. Man hat an diesem Abend den Eindruck, da will einer verdammt viel – nur nicht eines: wirken wie ein eindimensionaler Clubmensch. Hecktors Rolle im Trendgefüge der Stadt ist vielschichtig, und wie man sie interpretiert, hängt auch davon ab, zu welcher Tageszeit man ihn trifft. Eine Woche später sitzt er nachmittags in der Maxvorstadt hinter einer dampfenden Tasse Schwarztee, draußen wirbeln ein paar Schneeflocken. Er hat bis mittags geschlafen und wirkt aufgeräumter als beim ersten Treffen. Heute soll es um ihn gehen. Um die Entwicklung zum Markenprodukt. Mit acht Jahren sieht Hecktor sein erstes Kinderballett und sagt: „Tanzen will ich auch.“ Die Mutter meldet ihn zum Unterricht an, der Lehrer entdeckt Talent, in der zehnten Klasse muss Hecktor die Schule abbrechen, um acht Stunden am Tag trainieren zu können. „Und dann“, sagt er, „bin ich erst wieder aufgewacht, als ich 21 Jahre alt war und Tänzer im Staatsballett.“ Er sagt das ohne Pause, ohne die Stimme zu heben, wie eine Selbstverständlichkeit. Vielleicht hat er seinen steilen Aufstieg schon zu oft erzählt. Der Satz klingt aber auch so, als habe er in den Jahren zwischen Leistungstraining und Engagement am Staatsballett etwas verpasst. Vielleicht schluckt er damals deshalb eine Ecstasy-Pille. Es sind die Neunziger, viele schlucken Ecstasy, aber Hecktor hat Pech. Er gerät auf einen Horrortrip, wird in der Folge depressiv und fast arbeitsunfähig. Monatelang löst die Dunkelheit hinter der Bühne Angstzustände in ihm aus. Es ist der erste Knick in Hecktors Karriere, und wenn er jetzt davon spricht, blicken einen zwei tief umrandete Augen an. Es ist ein ähnlich düsterer Gesichtsausdruck wie in der „Elli Disco“. Irgendwann will Hecktor raus aus München, er bewirbt sich heimlich bei anderen Ballettensembles. Er kündigt, geht nach London, dann nach Montreal, zwei Jahre später nach Monte Carlo in eine renommierte Kompanie. Es ist 2001, Hecktor gehört mit 27 Jahren zu den 500 besten Balletttänzern der Welt, seine Wohnung hat Meerblick, doch noch immer ist er latent depressiv. Eines Tages habe er von weit oben über die Stadt geblickt, sagt er. „Und ich dachte: Wie geil. Wenn du dich irgendwann mal umbringen willst, dann hier.“ Sagt das nun Hecktor, der melancholische Künstler? Oder Hecktor, der Profi, der sich in der Rolle des melancholischen Künstlers gefällt? Cloat Gerold ist Redaktionsleiterin von Prinz, sie ließ Hecktor viermal größer drucken als Beckenbauer – sie sagt: „Mirko ist ein ungefilterter Mensch. Einer der nicht nur redet, sondern macht. Typen wie er tun der Stadt gut.“ Als Hecktor in Monte Carlo Solist wird, hat er erreicht, wovon er immer geträumt hat – und verliert das Interesse. „Ab dem Moment hat mir das Tanzen nichts mehr gegeben“, sagt er. „Ich konnte mich nicht mehr steigern, und gleichzeitig hatte ich noch so viele Ideen.“ Ein Buch übers Münchner Nachtleben und eine eigene Platte sind nur zwei Ideen unter vielen. Hecktor beendet seine Karriere und kehrt zurück nach Deutschland. Er ist 30 und beginnt, angewandte Theaterwissenschaft zu studieren, in Gießen, das als Kaderschmiede gilt. Er schreibt Stücke, arbeitet als Choreograph am Theater und legt in Clubs Platten auf. Die Münchner 850-Jahrfeier bietet schließlich die Möglichkeit, die Idee vom Bildband anzupacken. Seine Freunde beim Blumenbar Verlag mögen die Idee. Hecktor bricht das Studium ab und zieht zurück nach München. „Man war ja nie richtig gerne Münchner“ Fragt man DJs, Journalisten und Szenekenner nach Mirko Hecktor, findet man niemanden, der schlecht über ihn redet. Und doch zeichnet sich nicht das Bild eines einzigartigen Musikers oder eines überragenden Publizisten – sondern vielmehr das Profil eines charismatischen Tausendsassas, der deswegen fasziniert, weil er in München etwas lange Verstecktes freilegte: Stolz. „Man war ja nie richtig gerne Münchner", sagt Cloat Gerold. „Mirkos Buch hat das geändert.“ Vielleicht konnte Mirko Hecktor nur zum München-Sprecher werden, weil er lange genug weg war. Weil jemand wie er logischerweise nur aus einem Grund in München war: weil er es hier mochte. Und nicht umgekehrt. Hecktor tritt vor die Tür und zieht die Kapuze seines Parkas über den Kopf. Er ist noch immer voller Ideen. Er überquert die Straße und malt sich aus, wie es wäre, irgendwo hier eine kleine Champagnerbar zu eröffnen. Klingt nach Hirngespinst, und das ist es diesmal wohl auch. Aber so genau weiß man nie.

Text: jan-stremmel - Foto: Juri Gottschall

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