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Die Nacht. Die Langeweile

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Allein mit der Angst Ort: Englischer Garten Anzahl der Menschen: 0 Durchschnittliche Verweildauer: - Durchmachkomfort in Prozent: 10

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Mir ist ein bisschen mulmig, als ich vor dem hell erleuchteten P1 stehe. Von drinnen wummert schlechte Musik, die sich mit dem kontinuierlichen Rauschen des Eisbachs mischt. Ich mache einen Abstecher zur stehenden Welle, in der Hoffnung, dass dort vielleicht irgendein Verrückter surft. Natürlich ist dort keiner mehr. Ich biege hinter der Brücke in den Park ein. Das Rauschen verflüchtigt sich und kurz darauf knirschen nur noch die Kieselsteine unter meinen Schuhen. Meine Sinne sind hellwach. Hat sich da im Gebüsch nicht gerade etwas bewegt? Kommen die Geräusche von meinen eigenen Schuhen oder ist jemand hinter mir? Ich versuche mich zu beruhigen: Außer mir ist wohl keiner so blöd ist, nachts bei Temperaturen um den Gefrierpunkt im Englischen Garten rumzuturnen. Plötzlich taucht vor mir ein undefinierbares Ungetüm auf. Es bewegt sich nicht. Überraschenderweise ist es eine Notrufsäule. Ich präge mir ihren Standort gut ein. Wenn mich doch ein Axtmörder überfallen sollte, werde ich dort hinrennen und den ADAC anrufen. Hilft bestimmt. Ich laufe weiter über die große Wiese Richtung Monopteros. Versehentlich wecke ich ein paar Enten aus ihrem Schlaf, die quakend davonfliegen. Die Aussicht auf dem Monopteros ist überwältigend. Im Stechschritt marschiere ich am Biergarten vorbei, durch den Wald, über die nächste Wiese. Es hat angefangen zu nieseln. Ich habe weder Augen für den Frühling, der langsam im Blattwerk Einzug hält, noch für die romantische Beleuchtung am Seehaus. Meine Haare sind nass, mein Kopf glüht und wenn es nicht endlich drei Uhr wird, muss ich laut schreien. Michele Loetzner


Allein unter Männern Ort: Fitness-Studio Anzahl der Menschen: ca. 15 Durchschnittliche Verweildauer: eine Stunde Durchmachkomfort in Prozent: 90 (genug Nahrung in Form von isotonischer Limo und Eiweißshakes, Fernsehen, notfalls Schlafmöglichkeit auf der Hebebank).

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Nachts herrscht im Fitnesstudio an der Landsberger Straße eindeutig eine Männerrunde: Die Frauenumkleide ist leer, im Fernsehen läuft Fußball. Den Blick auf die Bildschirme gerichtet schwitzen ein dutzend Kerle auf den Laufbändern und klirren mit den Hanteln. Ein Kraftprotz mit rasierten Beinen hüpft Seil. Das Echo des Aufpralls hallt noch lange durch den fast leeren Raum von der Größe einer Produktionshalle. Busfahrer Nico, 30, läuft seinen dritten Laufband-Kilometer. Seit einer halben Stunde ist sein Arbeitstag zu Ende, danach ist er sofort hierher gekommen. Nicos Kopf ist rot, er atmet schnell. Sein Blick ist aber starr. „Natürlich bin ich hundemüde. Aber ich muss trainieren“, sagt er. „Für einen schönen Körper. Für die Weiber.“ Stefan, 28, schlurft vom Butterfly-Gerät zu den Gewichten. Seine Hose baumelt tief unter den Knien. Am liebsten trainiert Stefan nachts, weil weniger los ist und weil er sowieso nicht schlafen kann. Um halb drei packt er seine Tasche und steuert auf den Ausgang zu. Zum Abschied zeigt er auf den Bizeps, der sich unter seinem Pullover wölbt. „Hab grad’ 100 Kilo gestemmt“, sagt er zufrieden. Um Viertel vor drei wird das Studio langsam still. Aus den Lautsprechern dudelt immer noch Techno-Pop, aber die Gespräche und das Klappern der Geräte verstummen. Zwei ältere Männer kommen händchenhaltend rein, dann noch ein Kerl in Motorradkluft. „Ab jetzt ist Flaute“, sagt der Nachtwächter Manfred, der hier über die trainierenden Männer wacht. „Frühaufsteher kommen erst um vier.“ Wlada Kolosowa


In der Ambulanz Ungefähre Anzahl der Menschen: 5 Durchschnittliche Verweildauer: Zwei Minuten Durchmachkomfort in Prozent: 60, es ist ruhig, aber die Sitze sind unbequem

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Im Empfangsbüro sitzt ein etwa 30-jähriger Mann hinter einem großen Schreibtisch. Er nickt und sagt „Guten Abend“. Die Krankenhausmitarbeiter, mit denen ich heute Nacht sprechen werde, haben alle einen osteuropäischen Akzent. „Nicht viel los“, sagt er und zuckt dabei mit seinen Schultern, als ob er sich dafür entschuldigen möchte. „Wären Sie nur zwanzig Minuten früher gekommen, da sind drei Patienten angekommen. Der eine kam mit einem Eimer voll Blut, das haben Sie verpasst.“ Ich setze mich in den Wartebereich der Notaufnahme, der konsequenterweise nur zwei Holzsitze bietet – wer wartet schon auf seine Behandlung in der Notaufnahme? Ich analysiere ein maschinelles Hintergrundgeräusch, wie es nur jemand macht, den sonst absolut nichts ablenkt: Gluckerndes Wasser und zwei, wahrscheinlich recht kleine, mahlende Walzen und dazu alle vier Sekunden ein Luftstoß wie aus einer Fahrradpumpe. Um 2.37 Uhr hält ein Krankenwagen vor der Tür. Der Fahrer bremst nicht, er lässt seinen Krankenwagen ausrollen. Hoffentlich liegt der Patient im Wagen-Inneren nicht im Sterben. Es dauert vier Minuten, bis ein junger, etwa zwei Meter großer Sanitäter und eine sehr kleine, noch jüngere Kollegin den Warteraum betreten. Er versucht gerade, eine Pointe zu landen: „Und auf der Tüte stand giftig.“ Seine Kollegin ringt sich ein anerkennendes „He“ ab. Einen Patienten haben sie nicht dabei. Um 2.56 Uhr betreten zwei Krankenschwestern den Warteraum, eine davon bittet mich um meinen Presseausweis. Nach einer halben Minute gehen beide wieder. Das Wasser gluckert, die Walzen mahlen noch und dann die Luftpumpe. Sascha Chaimowicz


Allein mit den Alten Ort: In der Nacht-S-Bahn Ungefähre Anzahl der Menschen: Zu viele, um sie zu zählen. Zwischen Karlsfeld und Dachau befinden sich genau 37 Männer und ich in der Bahn. Durchschnittliche Verweildauer: Anfangs nur ein paar Minuten, dann bis zu einer Dreiviertelstunde. Durchmachkomfort in Prozent: 30. Nachdem man die Münchner Stadtgrenze verlässt, leert sich die Bahn. Leider fährt sie wochentags nicht die ganze Nacht.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Zwischen Ostbahnhof und Marienplatz verlassen die jungen, schönen und aufgeregten Menschen nach und nach das Abteil. Zurück bleiben einsame Männer, die Müden, die lange arbeiten mussten und die Enttäuschten, an deren Kleidung man die Vorbereitung auf den Abend ablesen kann. Es wird still im Abteil. Nur die Haltestellen-Ansagen brechen die Ruhe. Ein älterer, bärtiger Mann stützt die Ellbogen auf die Knie und starrt in die Leere, bis wir Dachau erreichen. Es macht ein wenig traurig, mit ihm in die Nacht zu fahren. Dana Brüller


Bei den Burgern Ungefähre Anzahl der Menschen: 50 Durchschnittliche Verweildauer: von 2 Minuten bis zu mehreren Stunden Durchmachkomfort in Prozent: 80

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Journalist wird man ja auch, weil man sich für Menschen interessiert und weil man glaubt, dass spannende Geschichten nur so auf der Straße herumliegen. Oder nachts bei McDonalds. Mit meinem Menu setze ich mich zwischen zwei grauhaarige Männer und frage sie, ob sie mir ihre Lebensgeschichte erzählen möchten. Der eine verlässt daraufhin sofort das Lokal, der andere heißt Joseph und hat ein Gesicht wie Paolo Conte, wenn man pathetisch sein möchte. Sonst sieht er eher aus wie ein Faltenhund. Joseph kommt aus Oberschlesien. Er ist Deutscher und Pole, Jurist und Elektriker. Früher arbeitete er in der Gerichtsmedizin und sah viele Tote, heute macht er Kabelschränke und irgendwas in Garmisch-Patenkirchen. Josephs Zug geht um halb sechs. Hier sitzt er, weil er einen Musiker wieder treffen möchte. Hat er mal am Hauptbahnhof kennengelernt, sagt er. Ich rede eine ganze Stunde mit Joseph, am Ende finde ich ihn ein bisschen komisch. Philipp Mattheis


Einträchtiges Schweigen Ungefähre Anzahl der Leute: 25 Gäste sitzen. Durchschnittliche Verweildauer: ein bis zwei Stunden Durchmachkomfort in Prozent: 90 Fast perfekt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Bis die Sperrstunde vor einigen Jahren fiel, war das „Lamms“ das einzige Münchner Lokal, das nach 3 Uhr morgens noch geöffnet hatte. Es gelten klare Regeln: An den Spielautomaten darf nur der sein Geld loswerden, der auch Getränke konsumiert. Und an der Theke gleich beim Eingang darf scheinbar nur sitzen, wer sich dieses Privileg durch ausführliche Besuche verdient hat. Wer Platz nimmt, muss zuerst einen Antrag auf Mitgliedschaft in einem Raucherclub ausfüllen. Der Antrag wird nach zehn Minuten abgeholt und dann darf auch bestellt werden. Neben mir setzen sich zwei ältere Herren in die Koje. Sie bestellen Weißbier, dann schweigen sie, einträchtig über ihre Gläser sinnierend. Als ich um drei Uhr meine Tasche packe und gehe, schweigen sie immer noch. Ihre Gläser sind leer. Der Kellner kassiert, arrangiert den vollen Aschenbecher neu und wünscht noch einen schönen Abend. Dann korrigiert er sich noch einmal und wünscht mir eine gute Nacht. Werde ich haben. Christina Waechter


Niemand da Ungefähre Anzahl der Leute: 10 Durchschnittliche Aufenthaltsdauer: 1 Minute Durchmachkomfort in Prozent: 30 Der kleine Mini-Shop ist hell erleuchtet. Hinter der Eingangstür ein Angebot: Zwei 0,5-Liter-Flaschen Wasser für 1,50 Euro. „3,40 Euro“, sagt der verschwitzte Mann hinter der Theke. „War das nicht im… Angebot?“ „Oh ja. Entschuldigung.“ Er nimmt die zwei Münzen entgegen und widmet sich dann schnell wieder seinen Backwaren. Für das Frühstück, wenn die Frühschichtler kommen. Croissants und Brötchen noch im Roh-Zustand. Zehn Minuten später: Leise fährt ein gelbes Auto an den Zapfsäulen vorbei und hält vor der Waschanlage. Ein Taxifahrer steigt aus, sprintet in den Shop, holt sich eine Flasche Wasser und fährt weiter. Insgesamt sechs Taxifahrer kommen, trinken manchmal einen Kaffee, manchmal ein Wasser. Nur einer tankt. Wo sind die Menschen? Sind heute keine Partys in der Umgebung? Muss niemand an der Tanke Flüssigkeiten nachlegen? Nach einer Stunde ist der Liter Wasser ausgetrunken. Hundert Meter weiter liegt die Wittelsbacher Brücke. Niemand beobachtet die Isar. Niemand da. Andreas Ernst

Text: philipp-mattheis - Illustration: Katharina Bitzl

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