Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Die Sprungteufel

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Ulrike sitzt auf dem Absprungbalken, Laidereggschanze Bischofshofen, Österreich, sie ist mit 19 Jahren schon fast eine Grande Dame im Frauenskisprung, sie ist sehr selbstkritisch: „Pünktlichkeit ist wichtig, dass Du die Kante triffst. Ich bin manchmal zu spät, so dass ich den Druck nicht auf dem Schanzentisch anbringen kann und deswegen Höhe verliere.“ Sie hebt ihren Hintern vom Balken, von Null auf Achtzig in drei Sekunden, vielleicht wird sie die erste Deutsche, die das Springen zu ihrem Beruf macht. Besuch bei einer Sportart vor dem Absprung. Der Co-Trainer der Frauennationalmannschaft, Stefan Pieper, zündet auf dem Marktplatz von Bischofshofen im Mannschaftsbus den Motor. Im Rückspiegel sieht er eine der zurzeit erfolgreichsten Mannschaften der Welt, er sieht zum Beispiel Juliane Seyfarth, 16 Jahre, die den Weltcup anführt und im Winter die erstmals ausgetragenen Juniorenweltmeisterschaften gewann. Wie früher Ulrike besucht sie das Sportinternat in Oberhof, das sie aber während der Wintertournee zwischen Januar und März nur zwei Wochen von innen gesehen hat. Pieper steuert den Bus auf den asphaltierten Parkplatz eines Supermarktes. Seine sechs Damen, die noch Mädchen sind – Ulrike ist die Älteste im Team – wärmen sich auf, springen wie Frösche über Stangen. Tief in die Hocke und aus der Hocke wieder über eine Stange, einen halben Meter hoch, wieder in eine tiefe Hocke und am Ende aus der Hocke hoch, Flugimitation, in die Hände von Stefan Pieper. Im Hintergrund Berge, Sprungschanzen und Werbung für Schweineschulter, das Kilogramm 2,99 Euro.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ulrike bei einer Flugimitation.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Schweizer Box. Anzüge, rechts Kuschelsachen. Sven Hannawald gewann einmal alle vier Springen der Vierschanzentournee, Martin Schmitt wurde viermal Weltmeister. Sie waren die Helden mehrerer Winter, die Deutschen feierten ihre Siege und verfolgten ihre Niederlagen: Hannawalds Ausstieg, Schmitts Sprünge auf hintere Plätze und die Magersuchtdebatte, die sich vor zwei Jahren durch eine Regel erledigte, nach der die Skilänge vom Gewicht abhängt. Bei den Frauen bremste mangelnde Konkurrenz die Entwicklung des Sports, erst seit 1998 gibt es den vom Internationalen Skiverband FIS organisierten Ladies Continental Cup, zu dem sich heute immerhin fünf Dutzend Springerinnen aus 14 Nationen in den USA, Japan oder in deutschen Orten wie Klingenthal, Meinerzhagen oder Pöhla treffen. Bischofshofen ist die letzte Station der Sommertour des Jahres 2006, es ist August, das letzte Springen vor der großen Entscheidung: Aller Voraussicht nach befindet das Internationale Olympische Komitee noch in diesem Jahr darüber, ob das Skispringen der Frauen im Jahr 2010 olympisch ist. Das Ziel: Olympia „Von der Weite her hätte ich dieses Jahr den Continental Cup gewinnen können“, sagt Ulrike, den Rücken im Mannschaftsbus aufgerichtet. „Andere sind vielleicht zwei Meter kürzer gesprungen – bei denen haben aber die Haltungsnoten gepasst.“ In Pöhla hatte sie wieder einen „Wackler“ in der Landung. „Ich muss richtig über dem Ski sein, dass ich setzen kann.“ Sie wirkt konzentriert und routiniert. Sie war sieben, als der Trainer ihres Bruders, Skispringer, Ulrike fragte, ob sie nicht auch mal in seine Hände springen will. Neun Jahre später wird sie Deutsche Meisterin und bewirbt sich 2006, nach dem Abitur, für die Sportfördergruppe der Bundespolizei. Beim vormaligen Bundesgrenzschutz würde sie ausgebildet, könnte sich auf ihr großes Ziel Olympia konzentrieren. Würde, könnte: Die Bundespolizei fördert eigentlich nur Sportler, die im Kader eines olympischen Sports stehen. Im Café am Marktplatz ist Co-Trainer Stefan Pieper, 24, bester Dinge, mit seiner Mannschaft an der Schwelle zur Professionalisierung zu stehen. „Wir haben gute Chancen, im Fernsehen auch mal eine Vier-Schanzen-Tournee der Frauen zu erleben. Erstens bekomme ich die weiten Sprünge bei den Damen genauso geboten wie bei den Herren. Zweitens glaube ich, dass man Frauen besser vermarkten kann als Männer.“ Der Rekord auf der Laidereggschanze liegt bei 76,5 Metern und wurde vom Österreicher Markus Machreich aufgestellt. Der weiteste Satz des Frauenspringens wird an diesem Tag ganz in der Nähe, bei 73,0 Metern enden. Springerin: Nummer 46, GER, Ulrike Gräßler.


Nur ein Mann stimmte kürzlich gegen das Skispringen der Frauen. Als die FIS im Frühjahr beschließt, die Disziplin schon im Jahr 2009 in die Nordische Ski-WM zu integrieren, legt der Schweizer Delegierte Veto ein. Er ist der Überzeugung, dass seine Mannschaft für große Wettbewerbe zu jung ist. Tatsächlich sind die Mädchen, die da vor dem Springen in einer der kleinen Boxen neben der Schanze Quartier bezogen haben im Schnitt gerade 14 Jahre alt.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Salome Fuchs. Mit Gips.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Juliane, 16, Juniorenweltmeisterin 2006. Unter ihnen aber ist Salome Fuchs, ein Ausnahmetalent von zwölf Jahren, weitester Sprung 108 Meter, Webseite salomefuchs.ch, die Jüngste im Feld. Sie steht in der Box und bringt mit Hilfe eines Bügeleisens Keramikwachs auf die Lauffläche ihrer Skier. Ihre linke Hand ist in Gips, weil sie neulich bei einem Fußballtrainingsspielchen mit dem rechten Fuß schoss, ausrutschte und fiel. „Fußball ist gefährlicher als Skispringen“, sagt sie. Sie wollte unbedingt diese ihre erste Tour springen, gewann sogar ein Trainingsspringen, verpasste aber im anschließenden Wettkampf das Finale. Tränen rollten und der Trainer konstatierte: Mit Wettkampfanspannung umgehen, das muss man erst lernen. „In der Schweiz war ich immer erfolgreich dieses Jahr“, sagt Salome. „Jetzt wollte ich viel zu viel. Aber jetzt habe ich’s langsam gelernt und internationale Erfahrung gehabt. Und ich weiß, dass ich sicher noch zehn, zwanzig Jahre Zeit habe. Da ist es nicht so schlimm, wenn man mal einen Wettkampf verhaut. Nächstes Jahr können wir dann angreifen. Dann ist finito!“ Salome ist beredt, gescheit und sagt jetzt schon Sätze, für die sie Sportreporter lieben würden. „Angst darf man keine haben. Aber Respekt.“ In Bischofshofen wird sie am Ende Platz 27 belegen. Sprung aus der Nische Der deutsche Co-Trainer, so sehr er auf Olympia 2010 hofft, mahnt, sich von früher Reife nicht täuschen zu lassen. Er warnt davor, von den Teenagern zuviel zu verlangen. Nur wenn die Sportart aus der Nische kommt, kann sie für Springerinnen wie Ulrike eine Perspektive sein; aber sind ihre jungen Kolleginnen dem Druck großer Wettbewerbe und der Hellhörigkeit der Mikrofone gewachsen? „Wenn wir in zehn Jahren hier sitzen, haben wir wahrscheinlich Profisportler, die den ganzen Tag nichts anderes tun wie über Skispringen zu reden und vielleicht auch richtig viel Geld damit verdienen können. Aber“, sagt Pieper, „das muss sich erst entwickeln.“ Er kennt den Traum von Olympia, die Erwartungshaltungen, wenn sich einmal der Erfolg eingestellt hat. Er kennt aber auch die Schwierigkeiten, sich zu erklären, wenn es nicht mehr geht. 2003 war Pieper deutscher Meister, zwei Jahre später verabschiedet er sich nach zwei verpassten Olympiaqualifikationen vom aktiven Sport. Er studiert heute Maschinenbau. „Manchmal“, sagt Ulrike, und sie klingt nüchtern, „manchmal ist es hart, wenn es einfach nicht funktioniert. Ich weiß es oft selbst nicht: Was war denn jetzt? Manchmal ist ein 15. Platz ein Erfolgserlebnis, weil man weiß, dass man einen Fehler abgestellt hat. Bei den Skispringern kann es den einen Tag gut gehen und den anderen Tag geht vielleicht gar nichts mehr.“

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Laidereggschanze, Flugimitation. Bischofshofen, das Springen, für die Platzierung zählen neben der Weite die Haltungsnoten, die fünf Sprungrichter ermitteln. Anthony Ulbert steht am Auslauf, er hat drei Jahre mit Ulrike in Klingenthal trainiert, er ist ihr auf der Sommertournee nachgereist und hat auf dem Hügel ein Transparent befestigt: „Flieg, Ulle!“ Gut 150 Zuschauer sehen hoch zum Schanzenturm, in Pöhla waren es weit über 1000. „Eine Riesenstimmung!“, erinnert sich Anthony, 20 Jahre, er hat das Skispringen aufgegeben, „bei mir hat es an den Leistungen nicht mehr gestimmt.“ Ulrike verlässt den Balken. Ein ssswusch, ein Fegen. Anthony: „Das Sprunggefühl ist absolut. Mit dem Wind zu fliegen . . . unbeschreiblich.“ Ulrike landet auf der Matte, die Skier machen Klapp, Applaus. Anthony: „Absolut!“ Stadionsprecherin: „Die Weite von Ulrike Gräßler: 72 Meter.“ Ulrike kommt an die Bande. Anthony: „Bravo, Uli!“ Ulrike: „Ja, aber die Landung wieder verkackt, ey.“ Finaldurchgang, Platz 30 springt zuerst, Platz eins zuletzt. Ulrike ist auf dem fünften Platz und übernimmt mit 73 Metern die Führung. Anthony: „Jawoll, ich hab’s doch gesagt!“ Noch vier Springerinnen. Anthony: „Bitte, lass sie gewinnen, lass sie einmal gewinnen.“ In der Summe springt Ulrike am Weitesten. Die Stadionsprecherin: „Es gewinnt Anette Sagen, Norwegen, vor Juliane Seyfarth, Deutschland.“ Anthony: „Das gibt´s doch nicht.“ Ulrike wird Dritte. Nur Tage später erfährt sie, dass die Bundespolizei sie in die Sportfördergruppe nimmt. Einrücktermin: 4. Oktober. +++ Mehr Bilder in der Bildergalerie unter www.jetzt.de/skispringen

  • teilen
  • schließen