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Eine Decke aus Erinnerungen

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Ich fand ich es ja schon aufregend, endlich von der kleinen Dörfergemeinschaftsschule im Norden Schleswig-Holsteins auf das Gymnasium in die nächstgrößere Stadt Kappeln zu wechseln. Doch meine Mutter fällte plötzlich eine Entscheidung ganz anderer Dimension: Sie hielt es nach der Trennung von meinem Vater für angebracht, ihr Leben in den Grundfesten zu renovieren. In München. Sommer 1998, ich war zehn Jahre alt und aus meiner Vorfreude auf eine Kleinstadt, die 10 000 Einwohner und einen CD-Laden hat, wurde die Vorfreude auf das Leben in einer Stadt, die ein Olympiazentrum besitzt. Nur ein einziges Mal war ich zuvor in München gewesen. Am Bahnhof, zum Umsteigen. Das Bild klebt noch jetzt im Fotoalbum: Mein Bruder und ich neben einem in Tracht gekleideten älteren Ehepaar. Meine erste interkulturelle Begegnung. Was da aus deren Mündern kam – ich verstand es nicht. Von einer Woche auf die andere waren wir weg. Durch den Bundeslandwechsel hatten sich meine Sommerferien fast verdoppelt. Ich hatte viel Zeit und noch keine Freunde. Mit Fahrrad und Karte untersuchte ich die Zusammenhänge der Straßen und entdeckte die Geschäfte in dem Ortsteil, in dem wir nun wohnten – in meinem Heimatdorf Stenderup hatte es nicht mal einen Bäcker gegeben. Direkt um die Ecke unseres neuen Hauses war ein riesiges Freibad. Es musste so etwas wie die Ostsee der Stadtkinder sein. Die Sprache der Großstadt waren Züge Mein Lieblingsplatz aber war der S-Bahnhof. Ganze Nachmittage verbrachte ich allein auf dem Bahnsteig. Ich fand es wahnsinnig aufregend, die alle zwanzig Minuten ein- und ausfahrenden Züge zu beobachten. Ich mochte das Klackern der Türen und den Geruch, der mit den aussteigenden Menschen aus den Bahnen kam. Es roch nach dreckigem Öl in der Sommerhitze, nach staubigen Sitzen und Aktentaschenleder, nach Parfum, Schweiß und ein bisschen nach Urin. War keine Bahn da, stand ich vor den Informationstafeln und lernte das Streckennetz auswendig. Abends im Bett sagte ich es mir noch auf. Großstadt war eine neue Sprache und S-Bahn Stationen die ersten Vokabeln.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Bahnhöfe waren bisher zwar immer etwas Aufregendes, aber nur mühsam für mich erreichbar gewesen. Von einem Erwachsenen musste man mit dem Auto nach Süderbrarup gefahren werden – es ging über lange, kurvige Straßen an den für den Norden so typischen Knicks entlang. Hinter ihnen weite, flache Felder, manchmal jemand auf einem Pferd. Über allem der weißgrau blendende Himmel. Vereinzelte Höfe und irgendwann Schranken: ein kleiner Bahnhof mit bröckelndem Bahnsteig und Unkraut zwischen den Asphaltplatten. Von dort weitere drei Rumpelstunden im Zug nach Hamburg. Die Münchner S-Bahn machte mich jetzt zu einem unabhängigen, zu einem - erwachsenen Mädchen. Der Herbst kam, das Gymnasium begann. Sprachunterschiede machten sich bemerkbar. Ständig rutschte mir „Moin“ statt „Grüß Gott!“ heraus. „Schnacken“ statt „Ratschen“. Die Münchner Cliquen drehten ihre Gesichter in meine Richtung: Wie redet die denn? Ich schämte mich und fing an, zu beobachten. Verschob Betonungen, ersetzte alte durch neue Worte. Mir wurde klar, dass es für einige Begriffe keine Übersetzung gab, obwohl man die Bedeutung verstand: „Ich hab fei jetzt einen Furby, ge?“, erzählte mir meine neue Freundin von ihrem Spielzeug. Tage später hatte ich immer noch kein einleuchtendes Synonym dafür gefunden. Also landete es in der neuen Wortschublade und wurde fortan einfach verwendet. Wer verrät die Herkunft zuerst? Meine vier Geschwister und ich beobachteten uns argwöhnisch am Mittagstisch des neuen Zuhauses. Wer würde die nordische Heimat zuerst verraten, in dem er Bruchstücke des neuen Dialekts annahm? Die unausgesprochene Regel zwischen uns lautete: „Wir wohnen zwar jetzt hier, bleiben aber innerlich Kinder des Nordens. Wer untreu wird, trennt sich von ihr und macht sich außerdem lächerlich, weil sich diese Sprache aus unseren Mündern niemals richtig anhören kann.“ Waren die anderen außer Hörweite, bayerte man sich dennoch heimlich voran. Aus der Geschwistereinheit wurden mit der Zeit fünf Einzelkämpfer. Jeder sah zu, wie er sich schnellstmöglich ein neues Zuhausegefühl schaffen konnte. Das Gefühl, die Stadt selbst vollständig zu begreifen, hatte ich erst viel später – als ich anfing abends mit Freunden wegzugehen. Im Auto durch die Nachtstadt. Mit meinem halbwarmen Bier in der Hand lehnte ich an der Scheibe und beobachtete die Straßen, die Lichter, die vielen wachen Menschen. Ich hatte das Hereinbrechen der Nacht bisher gehasst. Die Dunkelheit machte mir immer Angst. Aber in München gab es keine Einsamkeit. In der Neuturmstraße stand man mit vielen anderen wachen tanzwilligen Jungs und Mädchen in der Schlange vor den versteckten Stahltüren und hoffte auf Einlass. Drinnen gab es Helles und Tanzen zwischen schummrigen Sofas, in der Registratur morgens um vier Currywurst an der Garderobe und Visuals im Hinterhof. Bis die Vögel wieder anfingen zu singen. Es gab nichts Aufregenderes und ich war auf dem besten Weg, dazuzugehören. Dann eskalierte die von jeher angespannte Situation zwischen meiner Mutter und mir. Von einem Tag auf den anderen sollte ich wieder zu meinem Vater nach Kappeln ziehen. So schnell wie München mich bekommen hatte, war es mich los. Ich konnte nichts tun. Kaum eine Woche verging, da holte mein Vater mich aus Süderbrarup vom Bahnhof ab.


Mit meiner angelernten Stadtarroganz, jeder Menge Trotz und dem festen Vorhaben, bald auszureißen, stand ich im Flur der neuen Schule in Kappeln. Es war der 1. April 2004, ein Tag vor meinem 16. Geburtstag. Sechs Jahre vorher hatte ich so dringend hierher gewollt. Aber der Geruch der blauen Flurteppiche war jetzt nicht mehr aufregend, sondern nur noch abgestanden. Vor der Klasse sagte ich: „Ich bin die Mercedes aus München.“ In dem Moment fiel viel auseinander. Der Artikel vor meinem Namen und die gesamte Satzmelodie klangen falsch. Man betrachtete mich hier nicht als alte Bekannte, sondern als Neue aus der Stadt. Ich wusste auf einmal selbst nicht mehr, was ich eigentlich sein wollte und fiel erstmal in den Graben dazwischen. Mir gefiel das bittere Bier Dass ich aus München war, schien mich jedenfalls mit einem bewundernswerten Glanz zu umgeben. Menschen aus der Großstadt scheint man mehr am Puls der Zeit zu vermuten. Ich genoss diese mir gar nicht zustehende Bewunderung. Als sich herausstellte, dass wir im bayerischen Gymnasialunterricht viel weiter gewesen waren, lehnte ich mich weit zurück. Für mich war sowieso klar, dass ich bald wieder weg sein würde. Deshalb ließ ich mich auf nichts ein. Mein Desinteresse ärgerte die Lehrer. Einmal gab mein Cousin mit seiner Band ein Konzert. Jemand organisierte einen Shuttlebus in den verlassenen alten Waldgasthof. Es war das erste Mal, dass ich abends in der alten Heimat wegging. Es roch feucht und gammlig in dem dunklen Raum, aber es war voll. Ununterbrochen traf ich Leute, die ich noch von früher kannte. Sie nahmen mich in den Arm, als sei ich nie weg gewesen, und wussten, wie ich ausgesehen hatte, als ich klein war. Ältere Leute, sogar mein Onkel, standen zwischen all den jungen. Man duzte sich und trank zusammen. Mir gefielen die alternative Musik, die Offenheit der Leute und das bittere Bier, das ich als Kind so oft in den Händen meiner Eltern gesehen hatte. Jetzt drückten Jungs und Mädchen in meinem Alter selbst ihre Daumen gegen die Metallbügel. Plopp. Die Welt, von der ich dachte, sie sei mit meinem Weggang stehengeblieben, hatte sich weitergedreht. Ich fand, was ich beim Umzug nach München hatte liegen lassen: Mein erstes, echtes Heimatgefühl, eine Decke gestrickt aus Kindheitserinnerungen. Ich knüpfte an, wo ich aufgehört hatte. Mir wurde warm, ich merkte, was mir die Jahre über gefehlt hatte: Zugehörigkeit. In München war ich bloß die Zugezogene gewesen. „Blut ist keine Buttermilch“ Winter 2009, jetzt bin ich 21 und nach dem Abi in Kappeln, nach einem Jahr auf Reisen und nach ein paar Monaten Berlin ziehe ich zurück nach München. „Du Arme“ sagen schon wieder alle, wie damals, als ich aus Kappeln nach München ziehen musste. Und wie beim nächsten Mal, als ich gezwungen war, den Rückweg anzutreten. Schon da konnte ich wenig mit den Mitleidsbekundungen anfangen. Für mich hatten sich diese Wechsel immer als Bereicherung herausgestellt. Und diesmal gehe ich freiwillig. Weil ich die andere Heimatgefühlsdecke, die ich bei meiner ersten Ankunft in München mühsam angefangen hatte, neu zu stricken, jetzt zu einem Ende zu bringen will. Damit ich mich endlich in beiden Welten vollständig fühle. „Was sagst du, wenn dich jemand fragt, wo deine Heimat ist, Kappeln oder München?“, fragt mich meine Stiefmutter, als wir nachts zusammen mit dem Auto nach München fahren. Ich blicke auf die dunkle Autobahn und überlege. In Kappeln habe ich mittlerweile die meiste Zeit meines Lebens verbracht. Der Gedanke, dass es der Ort ist, an dem sich meine Wurzeln finden, verleiht mir Stärke und Geborgenheit. Ich identifiziere mich damit, wenn die Stimme meines Opas in meinem Ohr erklingt und sagt: „Norddeutsches Blut ist keine Buttermilch, min Deern!“ Trotzdem: Von all den Erinnerungen, Gerüchen und Tönen, die in ihrer Gesamtheit dieses nostalgische Heimatgefühl in mir bilden, sind beide Orte benetzt. Kappeln und München. Für die meisten hängen solche Erinnerungen in einem einzigen Ort. Ich finde sie eben an zwei Orten, die etwas weiter voneinander entfernt sind. Zwischen ihnen kann ich hin- und herspringen und mich so jedes Mal in der einen vor der jeweils anderen verstecken. Dadurch habe ich früh gelernt, was Sehnsucht ist. Weil man erst merkt, was man an einem Ort und seinen Menschen hat, wenn man Abstand zu ihnen gewinnt. Diesen Abstand hatte ich jetzt lange Zeit zu München. Nun habe ich ihn wieder zu Kappeln. Und seinen am winterlichen Hafen rasselnden Flaggen.

Text: mercedes-lauenstein - Illustration: Judith Urban

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