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„Er ist im Paradies. Wo sonst?“

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Jung sein bedeutet unverwundbar sein. Der Tod? Mehrere Jahrzehnte und zig Silversterpartys entfernt. Doch dann geschieht es doch irgendwann. Eine Krankheit oder ein Unfall nehmen zum ersten Mal eine Freundin oder einen Freund aus unserem Leben. Im Juli vergangenen Jahres geschah dies in der fränkischen Stadt Fürth. Ein Auto raste in eine nächtliche Polizeikontrolle, der 16-jährige Sercan kam bei dem Unfall ums Leben. Sercan war in Fürth so bekannt, dass mehr als 1 000 Menschen seiner Beerdigung folgten. Viele Familien der türkischen Gemeinde des Stadtviertels waren darunter, aber auch viele Schüler, die Sercan nicht persönlich kannten. Sie wollten trotzdem von ihm Abschied nehmen. Vielleicht war ihr Besuch auch der Versuch, den Tod zu verstehen. Wie geht man damit um, wenn zum ersten Mal ein Freund stirbt? Im Fürther Kinder- und Jugendhaus Catch Up, in dem sich in den Tagen nach dem Unfall viele Jugendliche zum Reden und Trauern trafen, sprechen wir mit fünf von Sercans besten Freunden. Hanan, 18, sagt, Sercan (sprich „Sertschan“) sei für sie wie ein Bruder gewesen. Kemal, 18, Mikel, 15, und Kamil, 19, waren fast jeden Tag mit ihm im Viertel unterwegs. Maria, 19, tanzte mit Sercan Hip Hop. jetzt.de: Könnt ihr mir erklären, warum derart viele Leute auf Sercans Beerdigung gewesen sind? Kamil: Weil er ein Gentleman war. jetzt.de: Mit 16? Kamil: Schon. Er hat wirklich jedem Menschen zugehört und geholfen. Er war lustig und offen. jetzt.de: War er auch deshalb so bekannt, weil er als einer der Ersten aus eurem Stadtviertel bei Tanz-Events in anderen Vierteln auftrat? Hanan: Schon. Das Tanzen war ja alles für ihn. Mikel: Obwohl die Leute gesagt haben: ,Du kannst das nicht.‘ Er hat trotzdem immer weiter gemacht. Maria: Das Problem war halt, dass wir beide beim Tanzen immer die Zunge draußen hatten. Kamil: Beim Fussballspielen hat er oft kurz auf dem Feld ein paar Schritte gemacht – und sofort die Zunge raus. Wir dann: ,Sercan, Zunge rein!‘ Mikel: Dann war er eingeschnappt. Beleidigte Leberwurst. jetzt.de: War er eitel? Hanan: Das war er. Er hat immer alles zu ernst genommen. Maria: Zumindest das mit der Zunge. jetzt.de: Der Unfall geschah in einer Nacht von Freitag auf Samstag. Ihr seid kurz nach Mitternacht entlang einer Landstrasse von einer Kirchweih heimgelaufen. Was ist dann passiert? Kamil: Wir waren so 15 Leute auf dem Heimweg. Erst war ich weiter vorne mit Sercan, hab’ mich dann aber nach hinten fallen lassen. Plötzlich rief uns ein Freund, wieder von vorne, etwas zu. In dem Moment haben wir das Blaulicht des Polizeiwagens gesehen, der dort bei Bobby, Mara und Sercan angehalten hatte. Wir wollten eigentlich sofort abhauen. Im selben Moment aber raste ein roter Ford an uns vorbei. Dann haben wir nur noch den Knall gehört und sind hingerannt. Ich habe den Bobby gesehen, der nicht reden konnte. Er war an der Schulter verletzt. Dann lag da der Sercan. Bei ihm war es krass. Er war halb am Verbluten, an der Seite war alles offen. Die Polizei war selber unter Schock. Dann haben wir versucht, erste Hilfe zu leisten. Ich hab’ sein Hemd aufgeknöpft und an seiner Brust gehorcht und sein Herz noch schlagen hören. Ich habe ihn in den Arm genommen und rumgeschrieen: ,Ruft den Notarzt!‘ Dann kamen die und haben mit Herzschocker versucht, was zu machen. Ich weiss gar nicht – ist er an einem Genickbruch gestorben? Maria: Sein Vater sagt, er ist verblutet. jetzt.de: Von euch war nur Kamil beim Unfall dabei. Wie haben die anderen davon erfahren? Mikel: Es war halb eins, Kemal war noch bei mir zu Hause. Dann haben die angerufen. Wir dachten, die sind besoffen und labern was und wir haben aufgelegt. Und dann rufen die nochmal an. Maria: Ich hab Sercans Papa Bescheid gesagt. Der Vedat, ein Freund, hatte mich angerufen und am Telefon geweint. Er sagte zu mir: ,Dem Sercan sein Herz schlägt nicht mehr!‘ Und ich zu ihm: ,Hör auf zu lügen!‘ Aber er hat nur noch mehr geweint. Ich war gerade Baden und hab schnell was angezogen und bin zu Sercans Vater gegangen. Erst konnte ich nicht reden und er meinte: ,Was machst’n du um Mitternacht bei mir?‘ Dann habe ich gesagt, dass er mit mir gehen muss.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Einer fehlt: Mehr als ein halbes Jahr nach dem Tod ihres Freundes Sercan denken Maria (links unten), Hanan (links), Kamil (Mitte), Kemal (rechts oben) und Mikel immer noch fast täglich an den Jungen, der im Juli vergangenen Jahres bei einem Unfall ums Leben kam. jetzt.de: Ins Krankenhaus? Maria: An die Unfallstelle. Kamil: Sein Vater ist zuerst ins Polizeiauto und hat dort Bescheid gekriegt, dass Sercan gestorben ist. Maria: Der wusste gar nicht, dass Sercan auf die Kirchweih geht. Kamil: Das sollte geheim sein, weil er bei Mara übernachten wollte. Maria: Sercan wollte, dass ich Maras Eltern anrufe und frage, ob sie bei mir schlafen kann. ,Das kannst du vergessen‘, hab’ ich gesagt. Dann haben andere Freunde Maras Eltern angerufen und gesagt, dass Mara bei denen schläft. Und Sercans Papa wusste nur, dass Sercan angeblich bei einer Tante übernachtet. jetzt.de: Wie lange seid ihr am Unfallort gewesen? Kamil: Am Unfallort waren wir locker bis drei Uhr. Wir haben uns nach einer Weile auf die Strasse gesetzt und eine Kerze angezündet und an der Unfallstelle mit den Polizisten gebetet. Dann sind wir zum Krankenhaus gelaufen. jetzt.de: Moment, das ist aber doch ziemlich weit? Kemal: Locker sieben Kilometer. jetzt.de: Ihr seid wieder an der Landstrasse entlang gelaufen? Kamil: Ja, sogar im Dunkeln. Was sollten wir machen? Wir waren noch zehn Leute und wollten wenigstens wissen, wie es dem Bobby und der Mara geht. Nach dem Krankenhaus, so um sieben Uhr, ist jeder heimgegangen. jetzt.de: Habt ihr schlafen können? Mikel: Nee. Kamil: Um zehn Uhr waren wir wieder draußen im Viertel. Kemal: Kamil war ein paar Tage überhaupt nicht ansprechbar. Hanan: Ein paar Tage? Kemal: Gut, länger. Kamil: Das Krasse war: Am Samstag wusste schon jeder Bescheid. Ich bin auf den Löwenplatz gegangen und jeder kam her: ,Hey, was ist passiert?‘ jetzt.de: Was hat es mit dem Löwenplatz auf sich? Kamil: Wir haben dort getanzt oder Fussball gespielt, obwohl es verboten war. Das war unser Platz. Mikel: Deshalb haben wir da auch eine Gedenkstelle gemacht. jetzt.de: Von diesem dicht mit Zetteln und Rosen und mit Bildern von Sercan geschmückten Baum habe ich Bilder gesehen. Wessen Idee war das? Maria: Meine. Das war ja seine Gegend, er war immer da. Direkt am Montag nach dem Unfall haben wir dort seine Lieblingstänze getanzt. jetzt.de: Kamil, wann bist zum ersten Mal Sercans Vater begegnet? Kamil: Am Unfallort. jetzt.de: Am nächsten Tag wieder? Kamil: Klar, da waren wir bei ihm zu Hause. Den ganzen Tag. Er hat gesagt: ,Ihr seid jetzt meine Kinder. Ich habe ein Kind verloren, dafür habe ich tausend Kinder bekommen. Wenn ihr keinen Platz habt zum Schlafen, wenn ihr Hunger habt: Kommt zu mir.‘ jetzt.de: Ist es denn keinem von euch schwer gefallen, zum Vater zu gehen und mit ihm zu reden? Kemal: Mir ist es schwer gefallen. jetzt.de: Was sagt man da? Kemal: (zuckt mit den Schultern) Hanan: Beileid. Was sonst? jetzt.de: Kamil, musstest du oft die Geschichte der Nacht erzählen? Kamil: Ja. Ich hab’ dann aber bald nichts mehr erzählt. Wenn man viel erzählt, kommen viele Geschichten raus. Auf einmal hieß es, dass Sercan schon vorher gewusst hätte, dass er an dem Abend sterben würde. Mikel: Aber das stimmt nicht. Kamil: Aber was stimmt, war: Auf dem Nachhauseweg gab es eine Bushaltestelle. Wir haben diskutiert, was wir jetzt machen. Sercan wollte unbedingt nicht laufen. Unbedingt nicht! Er meinte: ,Dann warten wir eben zwei Stunden auf den Bus. Aber wir laufen nicht!' jetzt.de: War es eigentlich eine Übertreibung, als nach der Beerdigung in der Zeitung stand, Sercan sei Vorbild für eine ganze Generation von Jugendlichen in Fürth gewesen? Hanan: Er war ein guter Tänzer und viele Kleine hier im Catch Up haben ihn als Vorbild gesehen. Weil sie tanzen wollten wie er. Kamil: Aber ob das eine ganze Generation ist? jetzt.de: Hanan sagte, dass ihr eine Zeitlang nichts mehr miteinander unternommen habt. Könnt ihr die Zeit nach Sercans Tod in Phasen teilen? Hanan: Wir haben uns schon jeden Tag gesehen. Mikel: Aber früher mussten wir uns nicht anrufen, um uns zu sehen. Wir hatten immer unsere Zeit, so 15 oder 16 Uhr am Löwenplatz, und da sind alle hin. jetzt.de: Diese Zeit gilt heute nicht mehr? Mikel: Wenn wir jetzt nach Hause gehen, ist am Platz alles leer. Hanan: Der ist richtig abgestorben, seitdem Sercan weg ist. jetzt.de: Wo habt ihr nach dem Unfall die meiste Zeit verbracht? Kamil: Bei Sercans Vater. Mikel: Wir haben im Catch Up Spenden gesammelt und damit seine Wohnung renoviert. Sercans Zimmer haben wir gelb-blau gestrichen, die Farben von Fenerbahce Istanbul. Das war Sercans Lieblingsfußballverein. jetzt.de: Denkt ihr heute weniger an Sercan? Hanan: Wir jetzt nicht. Wenn jemand zu mir in die Wohnung kommt, muss er sich denken: ,Was machen diese Riesendinger von Fotos in dem Zimmer – und auch noch ausgerechnet von diesem Jungen?‘ jetzt.de: Hast du Porträtbilder von Sercan Zuhause hängen? Hanan: Zwei, beide so DIN A 4-groß. jetzt.de: Seid ihr denn noch die Clique, die ihr gewesen seid? Mikel: Nicht mehr. Kemal: Mittlerweile geht jeder seinen eigenen Weg. jetzt.de: Warum? Seid ihr erwachsener geworden? Kemal: Man wird älter. Hanan: Nur einige sind noch zusammen unterwegs. Kamil: Fast jeder arbeitet. Man sieht sich nicht mehr so oft. jetzt.de: Hat das was mit dem Tod zu tun? Kamil: Das hat nichts mit dem Tod zu tun. Nur mit der Zeit, die vergeht. jetzt.de: Gerade wenn jemand jung stirbt, fragt man sich noch mehr: ,Warum?‘ Habt ihr eine Antwort auf diese Frage? Kamil: Die Guten sterben als Erstes. Hanan: Es war sein Tag. Mikel: Gott will es so. jetzt.de: Wo ist Sercan jetzt? Hanan: Im Paradies. Kemal: Paradies. Hanan: Auf jeden Fall. Kamil: Wo sonst?

Text: peter-wagner - Fotos: pw

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