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Expedition ins Bierreich

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„Bierstadl“ neben „Pils-Klause“ neben „Bei Biggie“. In einigen Münchner Stadtvierteln, zumeist ehemaligen Arbeitervierteln wie Giesing oder der Isarvorstadt, reiht sich ein Bierstüberl an das nächste. Diese kleinen Kneipen mit wunderlichem Namen und meist auch wunderlichem Personal locken in den seltensten Fällen einen Außenstehenden rein. Man kommt auf dem Weg zur U-Bahn vorbei, versucht mal neugierig durch die abgehängten Fenster reinzuschauen und liest ab und zu im Lokalteil der Zeitung davon, dass es in einem von ihnen zu einer Messerstecherei oder einem Raub gekommen sei. Andere Einblicke gibt es höchstens beim Zigaretten- oder Feierabendbier-Kauf, wenn die Stüberl letzte Rettung sind, aber schnell wieder verlassen werden. So ein Stüberl empfängt einen nicht feindlich, aber ein beklemmendes Gefühl lässt sich beim Hineinstolpern nicht vermeiden, und die Angst, dass schon die schiere Anwesenheit einem alkoholisierten und dünnhäutigen Gast so auf die Nerven gehen könnte, dass es zu einer Schlägerei kommt. Und deshalb bleiben Stüberl, so sehr sie auch in die Stadt eingebunden sind, fremde Orte, die der Nicht-Stammgast aus seinem Blickfeld aussortiert. Johannes Lauer hat nicht nur seine Schwellenangst vor dem Besuch eines Stüberls überwunden, er hat eine ganze Arbeit darüber geschrieben. Seine Magisterarbeit in Ethnologie an der LMU München hat er zum Thema Stüberl gemacht. Genauer: „Stüberl in München. Heimat – Entspannungsoase – Katzentisch? Teilnehmende Beobachtung im Münchner „Stüberl“. Angefangen hat all das mit einem Feldforschungsseminar. Da sollten die Studenten in München Orte suchen und auch aufsuchen, die ihnen fremd waren – „the alien next door“. Für manche Studenten war das der örtliche Tennisclub oder die Schwulen-Szene. Für Johannes und ein paar Kommilitonen waren es die Stüberl Münchens. Gemeinsam untersuchten sie zunächst ihre eigenen Vorurteile, Vorbehalte und Ängste, dann überwanden sie die und begaben sich an diese „fremden Orte“. Nach dem Seminar löste sich die Gruppe auf, doch Johannes Lauer blieb bei den Stüberln hängen. Sie sollten Ort und Thema seiner Magisterarbeit werden.

Gelacht hat er nicht, als er das Thema mit seinem Professor ausgemacht hatte, dafür war ihm das Thema zu wichtig: „Wenn ich nicht diese Arbeit geschrieben hätte, hätte ich wahrscheinlich mein Studium hingeschmissen.“ Statt also, wie der Laie es von einem Ethnologen erwartet, in fremde Länder zu reisen und exotische Kulturen aufzusuchen, hat sich Johannes aufgemacht, das Fremde in der direkten Umgebung zu erforschen. Wohnzimmer mit Zapfhahn Seine eigene Geschichte hat ihm da, meint er, durchaus auch geholfen. Erst mit elf Jahren kam er, Rumänien-Deutscher und Spätaussiedler, mit seiner Familie nach Deutschland. Zwar war Deutsch seine Muttersprache, aber das heißt nicht, dass er dieselbe Sprache gesprochen hätte. „Ich habe fast nichts verstanden. Jemand hat einen Witz gemacht – und ich habe nicht kapiert, warum die anderen gelacht haben.“ So wurde er zu einem, der lieber aus sicherer Entfernung beobachtet als mitten drin dabei zu sein. Nach einer wechselhaften Schullaufbahn machte er zunächst eine Lehre, arbeitete, holte sein Abitur nach und begann zu studieren. Zum Wintersemester 2000 begann er sein Studium der Ethnologie, Afrikanistik und Volkskunde an der LMU. Dass er es durchzog, hat vor allem mit den Stüberln zu tun. Von den Bierstüberln geht, trotz der Vorurteile, eine eigenartige Faszination aus. Sie haben etwas Anrüchiges, mit dem man lieber nicht in Verbindung gebracht werden möchte. Die Stüberl und vor allem ihre Kundschaft sind „das Andere“, sie sammeln Vertreter einer Klasse, von der man sich abgrenzen möchte. Es sind keine produktiven Mitglieder der Gesellschaft, sondern Säufer, denen schon mittags nichts Besseres einfällt, als sich Bier und Schnaps hinter die Binde zu kippen. Die, die nicht dazu gehören wollen, versuchen angestrengt, sich davon abzugrenzen und ihre Position in der Gesellschaft beizubehalten. Aber die Abgrenzung, hat Johannes festgestellt, beruht auch auf Gegenseitigkeit. Stüberl sind von außen nicht einsehbar. Durch die Abschottung des Draußen entsteht im Inneren der Kneipe ein Rückzugsgebiet für die, die mit der Welt draußen, und sei es nur für ein paar Stunden, nichts zu tun haben wollen. Stüberl sind, hat man sich erst einmal reingetraut, nicht halb so schlimm wie ihr Ruf. Es gibt Bier, eine robuste Schnaps-Auswahl und längst vergessen geglaubte Mixgetränke wie Rüscherl oder Whiskey-Cola. Man geht ausgesprochen familiär miteinander um, und wenn ein Gast eine halbe Stunde dort verbracht hat, kennt er vermutlich alle anderen Anwesenden mit Namen. Denn im Stüberl wird, im Gegensatz zu den sonst üblichen Kneipen-Regeln, der Kontakt gesucht.

Bei seiner Recherche zur Arbeit hat Johannes Lauer Unmengen dieser Stüberl aufgesucht und sehr viel Bier getrunken: „Genau kann ich nicht mehr erinnern, aber es war eine Menge, die sich eher in Hektolitern als in Litern beziffern lässt.“ Seine anfängliche Angst hat er sich abgewöhnt. Mal hat er das Gespräch gesucht, mal ist er nur da gesessen und hat beobachtet, was sich um ihn herum abspielt. Dabei hat er festgestellt, dass die Angst und viele der Vorurteile, die er vorher hatte, zum größten Teil unbegründet waren. Nur manchmal kam es zu unangenehmeren Begegnungen, vor allem, wenn er fotografieren wollte: „In einem Stüberl habe ich nur an meinem Fotoapparat rumgespielt und schon ist einer gekommen und hat mich ziemlich aggressiv gefragt, was ich da mache. Und als ich die ,Gruam‘, ein Stüberl an der Großmarkthalle, von außen fotografiert habe, sind auch gleich Gäste raus gekommen und wollten mich daran hindern, das Stüberl zu fotografieren.“ Diese Abneigung gegen die Abbildung liegt, so vermutet Johannes Lauer, an der Wohnzimmerhaftigkeit der Stüberl. Es sind geschützte Räume, in denen die Besucher sich gehen lassen – und dabei auch ihre Ruhe haben wollen. Diese Wohnzimmer-Atmosphäre der Stüberl führte auch zu absurden Situationen. So konnte Johannes einen Gast dabei beobachten, wie er sich bis auf die Unterhose auszog. Es hatte einen Streit mit der Wirtin gegeben und um seine Unschuld zu beweisen, schälte der Gast sich aus seinen Kleidern. Stüberl-Sterben Auch wenn sich zunehmend in der jungen Szene Kneipen den Anstrich von Stüberln geben, sind sie, meint Johannes Lauer, ganz sicher keine. „Ein ‚Valentin Stüberl‘ nennt sich vielleicht so und gibt sich den Anstrich, aber das hat nichts mit einem echten Stüberl gemein.“ Stattdessen wird ironisierend mit dem Begriff gespielt. Man gibt sich einen rustikalen Anstrich, hat aber trotzdem alle modernen Biersorten im Kühlregal, beschäftigt einen DJ und bietet auch sonst alles, was ein anspruchsvolles Publikum erwartet. Die echten Stüberl, hat Johannes Lauer festgestellt, sind eine bedrohte Art. Wenn das Stüberl-Sterben noch nicht begonnen hat, so kündigt es sich zumindest an. Das haben ihm auch viele Gäste und Wirte bestätigt. Es gibt keinen Nachwuchs. Es gibt immer weniger Arbeiter, aus ehemaligen Arbeiter-Vierteln werden teure Wohnlagen und die Mieten gehen entsprechend hoch. Die Stüberl leben fast ausschließlich von der Stammkundschaft, die nachziehenden Bewohner dagegen wandern von einer Kneipe, die momentan in ist, zur nächsten. Die Nähe, die in einem Stüberl entsteht, ist ebenfalls nicht jedermanns Geschmack. Man redet miteinander, jeder weiß vom Leben des anderen und passt auch aufeinander auf. Da lässt sich schwer an der eigenen Legendenbildung basteln oder eine coole Fassade aufbauen. Wer sich trotzdem mal das Stüberl-Leben ansehen will, für den hat Johannes Lauer ein paar Ausgeh-Tipps: „Wer es sich mal richtig geben will, der sollte mal in den ,Marktstadl‘ am Viktualienmarkt gehen. Da tanzen die Leute schon um zehn Uhr morgens. Und zwar Paartanz. Und die sind nicht vom Vorabend noch betrunken, sondern schon wieder.“ Wer es etwas bizarrer haben will, dem sei der „Salzburger Grill“ in der Müllerstraße empfohlen: „In einer Ecke sitzt der Methadon-Stammtisch, in der nächsten die Afrikaner und die Theke ist für die Bayern reserviert.“ Es geht dort vielleicht manchmal wild zu, aber man verträgt sich auch bald wieder und ist sich nicht gram. Die „Baldeschänke“ in der Baldestraße ist dagegen angenehm ruhig und unspektakulär. Die Wirtin Inge ist eine Frau im fortgeschrittenen Alter mit tiefschwarzer, perfekt sitzender Kurzhaarfrisur und einer blau getönten Brille. Sie ist vor über 30 Jahren aus Berlin nach München gekommen, aber ihre ruppige Herzlichkeit hat sie sich konserviert. Viel los ist selten, da bleibt mehr Zeit für Würfel- und Trinkspiele. „Lügen“ heißt eines und wer dabei verliert, zahlt die anfallenden Schnaps-Runden. Für seine Magisterarbeit „Stüberl in München“ hat Johannes Lauer auf dem Stiftungsfest der LMU dann sogar den Hochschulförderpreis der Stadt München gewonnen. Dass der auch mit einem Geldpreis verbunden war, fand Johannes besonders praktisch. Denn nach der einjährigen Forschungsreise durch Münchens Stüberl war er ziemlich pleite. (Fotos: Maria Dorner)

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