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„Gitarre spielen, bis die Polizei kommt“

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Was Tobias heute Abend passiert ist, hätten andere in seinem Alter als peinlich empfunden. Der 17-Jährige hatte dreizehn seiner Mitschüler zu einer Veranstaltung eingeladen und als die Mitschüler sahen, was Tobias da aufgebaut hatte, gingen sie wieder. Dafür stehen jetzt seine Eltern da, um elf Uhr nachts. Seine Mutter Edith sagt: „Das macht uns echt froh, was der Tobias da macht“. Die anderen aus der Schulklasse sind zur Isar weitergezogen und trinken Bier. Tobias findet das nicht schlimm: „Die haben halt einfach andere Interessen,“ sagt er.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

„Alkohol? Nicht so wichtig“ Am Samstagabend auf dem Odeonsplatz fordern Jugendliche günstigere Mieten und mehr Wohnheimplätze in der Stadt. Der Kreisjugendring hat zu einem „Sleep In“ aufgerufen. Etwa 60 Teilnehmer sind gekommen, um vor der Feldherrenhalle zu übernachten. Als politische Kundgebung ist die Aktion bei der Stadt angemeldet, es geht um „mehr Freiraum, mehr Wohnraum und mehr Spielraum“ für die Jugend der Stadt. Jugendgruppen, die zum Kreisjugendring gehören, haben Zelte aufgebaut. Neben dem Zelt der Alpenvereins-Jugend steht das Zelt der „Jugendkirche München“, ein paar Meter weiter wird der Nachwuchs vom „Bund Naturschutz“ schlafen. „Gitarre spielen bis die Polizei kommt“, möchte der 22-jährige Lukas heute. Und auf Missstände aufmerksam machen: „Es geht nicht darum, dass die Stadt mehr Spielplätze aufstellt oder so, nein, wir brauchen hier in der Stadt mehr Platz für uns und das geht nur über günstigere Mietpreise.“ Lukas studiert Politikwissenschaften und gehört zum Team „Münchner Schülerbüro“. Er kniet in einer Ecke seines Zeltes auf der Isomatte, die er mitgebracht hat, sein Schlafsack steckt noch in seinem LMU-Rucksack. Vor den Treppen der Feldherrenhalle singt eine Gruppe Jugendlicher betrunken „Fiesta Mexicana“. Zum „Sleep In“ gehören sie nicht. Lukas scheint sie nicht zu hören, vielleicht ignoriert er die Rufe. Auf die Frage, ob er denn heute Abend nichts trinken will, sagt er: „Alkohol ist nicht wichtig für uns. Ich muss keine vier, fünf Bier trinken. Wenn’s morgen früh so richtig runterbrennt auf den Odeonsplatz, ist es bestimmt nicht gut, einen Kater zu haben, glaube ich.“ Die Jugend, für die Lukas steht, findet in Zeitungen und Fernsehsendungen kaum statt. „Jugendliche werden im öffentlichen Raum fast nur noch als Problem wahrgenommen. Wenn sie in den Medien vorkommen, dann saufen sie, sind respektlos, sind faul. Oder aggressiv“, schrieb die Journalistin Bettina Gaus am Wochenende in der taz. Doch eine andere Jugend, eine, die sich in Vereinen organisiert und sozial engagiert, gibt es. Gerade bildet sie in der Mitte des Odeonsplatzes einen Sitzkreis. Ein paar Mädchen aus der „Jugendkirche“-Gruppe verteilen bunte Luftballons, an denen Zettel hängen. Auf ihnen steht: „Ich wünsche Dir das Paradies“. Gleich werden alle die Ballons in den Himmel steigen lassen. Doch davor zünden sie Wunderkerzen an, die sie an die Ballonschnüre hängen. Wer an diesem Abend durch die Münchner Innenstadt läuft, vielleicht auf ein Bier in die Xcess-Bar geht oder zum Tanzen ins Atomic Cafe, wird die „Sleep-In“-Teilnehmer wahrscheinlich als Minderheit begreifen, als eine Art Nischenjugend. Wie zum Trotz versammeln sich die Jugendlichen immer wieder in der Mitte des Platzes und brüllen den Schlachtruf des Abends, das Motto, das auf jedem der dreitausend verteilten Flyern steht: „Platz da!“ Um kurz vor ein Uhr legen die meisten sich schlafen. Nicht alle sind geblieben, es sind jetzt noch etwa dreißig Menschen da. Die, die nicht in Zelten übernachten wollen, sondern unter freiem Himmel, haben ihre Schlafsäcke auf blaue Turnmatten gelegt. Immer zur vollen Stunde, also auch um ein Uhr, findet im „Jugendkirche“-Zelt ein „kleiner Impuls“ statt. Manchmal sagt Veronika auch „Gedankenbesinnung“ dazu. Sie ist 25, engagiert sich seit einem halben Jahr in der „Jugendkirche“ und studiert soziale Arbeit. Das Motto des Abends „Platz da!“ interpretiert sie als „Platz für junge Leute, Platz für sich, Platz für Gott“. Ihr Zelt ist mit Fleecedecken ausgelegt, auf ihnen brennen Kerzen, in der Mitte des Zeltes liegt aufgeschlagen die Bibel. Momo-Lektüre „Gleich geht der Gedankenimpuls los“, sagt sie in die Runde. Gekommen sind diesmal auch Kirchenfremde: Moritz, Rudi, Eugi und Jessi waren auf dem Weg ins Atomic Cafe, als sie das „Sleep In“ bemerkten. Die beiden Jungs sind betrunken. „Ich finde das unheimlich, mit dem Buch in der Mitte und den Kerzen“, sagt Jessi zu ihrer Freundin. Eine Kirchenglocke läutet die volle Stunde ein. „Vielen Dank, dass ihr hier seid. Ich möchte Euch jetzt eine Geschichte vorlesen“, sagt Veronika sanft, als wolle sie das Jugendkirche-Mitglied, das in einem Schlafsack in der Ecke liegt, nicht wecken. Die vier Fremden unterdrücken ihr Lachen, den Jungs tränen die Augen. Veronika liest jetzt aus „Momo“ vor, dem Roman von Michael Ende. Irgendwo draußen schreien Jungs „Ausziehen, ausziehen“. Zum „Sleep In“ gehören sie nicht. Nach ein paar Sekunden verstummen die Rufe. Veronika hat einfach weitergelesen.

Text: sascha-chaimowicz - Foto: Autor

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