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Gunten Morgän, spräken si englesch? Zu Besuch in der eigenen Stadt

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Der Rucksack ist gepackt: Die wasserdichte Trekking-Jacke, ein paar nicht mehr ganz neue T-Shirts, Sonnencreme und an der Seite baumeln die Badeschlappen. Schon oft bin ich so losgezogen: nach Istanbul, Barcelona, Italien und Sibirien. Dieses Mal steht ein Kurzurlaub in Munich auf dem Programm. Die Anreise erfolgt per U-Bahn. Seit sechs Jahren lebe ich in München, aber ich will herausfinden, ob die Stadt, die ich Tag für Tag erlebe, irgendwas mit der Stadt gemeinsam hat, die man als Rucksackreisender erlebt. Ab dem Hauptbahnhof bin ich deshalb „Katarzyna from Poland“.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Katarzyna kann kein Deutsch und nur mittelmäßiges Englisch. Sie reist allein und schreibt für die Jugendseite der Zeitung ihrer Heimatstadt eine kleine Reportage über ihre Fahrt durchs WM-Land. Übernachten will sie in „The Tent“, einer billigen Unterkunft für Rucksackreisende. Natürlich ist Katarzyna eine Rolle, die ich spiele, aber wenn ich als „Katarina from Munich“ mit den Rucksacktouristen herumziehen würde, würde ich automatisch zu ihrer Reiseführerin werden und nie erfahren, wie ein echter Individualreisender meine Stadt erlebt. Am Bahnhof frage ich mich auf Englisch zur Touristen-Information durch, denn ich weiß nicht, wie man zu „The Tent“ kommt. Eine Frau schickt mich zu einem Schalter in der Mitte der Bahnhofshalle, auf dem „DB-Service-Point“ steht. Der Herr dort versucht mir zu helfen: „Go in the U2 to the Stop Hasenbergl“, sagt er. Eineinhalb Stunden später bin ich wieder am Bahnhof. Ich triefe vor Schweiß, der Rucksack schneidet in die Schultern und ich weiß jetzt, dass Deutschland multikulturell, aber „The Tent“ nicht am Hasenbergl ist. Fünf Jungs retten mich. Sie tragen Sandalen, Shorts und alberne Hüte und übernachten selbst auch in „The Tent“. Erleichtert schließe ich mich ihnen an und beginne Backpacker-Small-Talk. Die Jungs kommen aus England, sind wegen der WM da, die Duschen im Tent sind sauber und Munich ist echt cool – es gebe hier sogar eine Wiese, auf der lauter Nackte liegen. Abgesehen davon finden sie „all the Nazi stuff“ – all diese Nazi-Sachen – am sehenswertesten. Hitler sei zwar kein netter Kerl gewesen, aber eben doch „fucking fascinating“. „The Tent“ liegt etwas außerhalb, auf einer Wiese am Kapuzinerhölzle. Für 11 Euro pro Nacht kann man auf dem Boden eines Bierzeltes übernachten. Regenbogenfarbene Isomatten und leicht miefende Wolldecken werden gestellt und jeden Abend gibt es ein Lagerfeuer. Die englischen Jungs holen nur ihre Rucksäcke ab und verschwinden dann zum Nachtzug nach Berlin. Im Aufenthaltsraum erstehe ich das heutige Tagesessen: einen Berg Reis mit einer Soße, die vor allem aus Kartoffeln besteht. Beim Essen lerne ich Janet aus Kalifornien und vier Neuseeländer kennen: Scott, Mark, Pete und Thomas. Alle sind Anfang bis Mitte 20, tragen knielange Shorts, verwaschene T-Shirts und Flipflops. „We want to do all of Europe in four weeks“, sagen sie. Um zehn Uhr abends beschließen wir, dem Münchner Nachtleben einen Besuch abzustatten.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Den Weg zum Hauptbahnhof kennen wir inzwischen. Dort fragen wir den erstbesten jungen Menschen nach guten Clubs. Er schickt uns per S-Bahn zum Ostbahnhof, wo sich meine Begleiter mächtig darüber wundern, wie ruhig die Münchner Innenstadt ist, denn sie sind überzeugt, dass Clubs im Herzen der Stadt sein müssen. „Sogar Neuseeland ist da ja aufregender“, sagt Scott. Es dauert gut eine halbe Stunde, bis wir jemanden finden, der uns zum Kunstpark Ost lotst. Dort landen wir im Vorgarten der Drei-Türme-Bar. Das Clubinnere bleibt heute geschlossen, aber das sagt man uns erst, als wir schon Eintritt bezahlt haben. Für sechs Euro dürfen wir uns im Freien die Beine in den Bauch stehen und „Viva Colonia“ grölen. Normalerweise würde ich mich über die schlechte Musik ärgern und schnell wieder flüchten. Aber ich habe längst das Gefühl, wirklich im Urlaub zu sein und im Urlaub sieht man alles lockerer: Man ist stolz, wenn man in der fremden Stadt überhaupt irgendeine Party gefunden hat und geht dann davon aus, dass in dieser Stadt nun mal so feiert. Janet, Pete, Scott, Thomas und Marc beobachten die exotischen Rituale der Einheimischen und schließen von dieser Bar auf das deutsche Nachtleben an sich: Die Barkeeperinnen Deutschlands tragen Dirndl, die Deutschen feiern in Freiluft-Clubs und tanzen Polonaise. Während ich ihrer Analyse lausche, überlege ich, was für merkwürdige Zufälle wohl mein Bild von Istanbul und Madrid prägen. Das München, das ich an diesem Abend erlebe, ist mir fast so fremd, wie es meinen Mitreisenden ist. Bald gehen wir von der theoretischen Analyse zur teilnehmenden Beobachtung über und tanzen mit. Besonders fröhlich ist die 20-jährige Janet aus Kalifornien, die Wodka-Red-Bull trinkt und sich beim Tanzen an einen jungen Mann in Lederhosen schmiegt. Später erzählt sie, dass sie seit sechs Wochen mit ihrem 16-jährigen Bruder unterwegs ist, den sie heute im Camp zurückgelassen hat. Dass wir morgens um halb fünf tatsächlich wieder bei „The Tent“ sind, grenzt an ein Wunder. Wir sind wahllos in Nacht-Trams gestiegen, haben uns durchgefragt und Stopps gezählt, wobei wir uns eigentlich immer verzählt haben. Um zu meinem Platz im Zelt zu gelangen, muss ich über Menschen hinwegsteigen, die in ihren Schlafsäcken wie überdimensionale Würmer aussehen. Ein paar schnarchen; wenn sich jemand umdreht, knarrt der Dielenboden. Trotzdem schlafe ich sofort ein. Laute brasilianische Musik reißt mich aus dem Schlaf – sie stammt aus den Lautsprechern in den Ecken des Zeltes. Neun Uhr. Frühstückszeit. Das ist hier zwar nicht im Preis inbegriffen, aber für 80 Cent bekommt man eine Tasse Kaffee und für noch mal 85 Cent einen Teller Cornflakes mit Milch. Überall im Aufenthaltsraum liegen Prospekte aus: Ein Tagestrip nach Neuschwanstein und ins Konzentrationslager Dachau wird angeboten. Ich ziehe wieder mit den Neuseeländern los, auf eigene Faust in die Richtung, in der wir die Innenstadt vermuten. Janet würde gerne mitkommen, aber der kleine Bruder quengelt, dass er ins BMW-Museum will.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Am Bahnhof erstehen wir einen Stadtplan. In den meisten Städten dieser Welt muss man nicht lange mit ausgebreitetem Stadtplan und verzweifelter Miene herumstehen, bis jemand Hilfe anbietet. In München funktioniert der Trick leider nicht. Aber einer der Neuseeländer, „Pete from Auckland“, erklärt, dass er bei den Pfadfindern war und uns jetzt den Weg zum Englischen Garten zeigen werde. Und schon eilt er flotten Schrittes voraus, Richtung Theresienwiese. Ein unbekannter junger Mann bringt uns wieder auf den rechten Weg. Er trägt Shorts und an seinem Gürtel baumelt eine Wasserflasche. Auf Englisch fragt er, ob wir „Mike´s Bike Tour“ mitmachen wollen, zu einem Sonderpreis, versteht sich. Den Jungs erzählt er, dass man dabei auch zu einer Wiese komme, wo lauter Nackte liegen und mir schmeichelt er, er habe sofort erkannt, dass ich Polin sei. Polinnen hätten eine natürliche Eleganz. Ich trage Badeschlappen und ein fünf Jahre altes T-Shirt. Wir werden an diesem Tag noch oft angequatscht, von Leuten die uns ein tolles Restaurant zeigen wollen, Stadtführungen anbieten oder Andenken verkaufen. Der junge Mann erklärt uns, wie wir zum Marienplatz kommen. Dort startet „Mike’s Bike Tour“ in einer halben Stunde, aber wir verpassen sie, weil es auf dem Weg zum Marienplatz zu viel zu sehen gibt. Wir brauchen für die Strecke fast eine Stunde. Die Neuseeländer haben ein Reise-Maskottchen dabei, Piwi the Kiwi, ein Kuscheltier, das ihren Nationalvogel darstellt. In der Kaufinger Straße wird Piwi auf jeden Plastiklöwen gesetzt und fotografiert. Pete will unbedingt noch zum Rhein. Der ist für ihn der deutsche Fluss schlechthin, und da München für ihn die deutscheste aller Städte ist, ist er sicher, dass der Rhein hier durchfließt. Ich kann mir nicht verkneifen, aus dem Lonely-Planet vorzulesen, dass der Fluss in München „Isar“ heißt. Die Jungs haben mir erzählt, dass sie sich das ganze München-Kapitel im Lonely-Planet reingezogen haben. Sie nennen das Buch „the bible“, aber diese Bibel ist offenbar so voll gestopft , dass wenig hängen bleibt. Später kommen wir noch an diesem „unglaublichen Königspalast“ vorbei. Der liegt auf einem Hügel am Fluss und sieht mit den Rundbögen majestätisch aus. Ich frage mich, wie oft ich selbst in einer fremden Stadt das Parlamentsgebäude für einen Königspalast hielt. Wahrscheinlich oft. Scott fällt auf, dass es in München sehr viele aggressive Radfahrer gibt, die laut klingelnd und mit nur wenigen Zentimetern Abstand vorbei rauschen und dabei auch noch vor sich hinschimpfen. Es könnte daran liegen, dass wir grundsätzlich auf den Radwegen gehen, aber das kann Scott ja nicht wissen. Dafür lächeln uns alle Münchner an, die wir nach dem Weg fragen. Das mag wiederum damit zu tun haben, dass wir sie mit einem heiteren „Gunten Morgen, spräken si englesch“ begrüßen. Es ist inzwischen später Nachmittag und außer den Cornflakes haben wir noch nichts im Bauch. Mark hat gelesen, dass München die Hauptstadt der deutschen Wurst ist, aber komischerweise gibt es keine Würstchenbuden – nur internationales Fastfood und asiatische Imbissbuden. Schließlich irren wir hungrig zwischen Landtag und Staatskanzlei umher und finden dort nur überteuerte italienische Restaurants. Glückerweise sind meine 24 Stunden als „Katarzyna“ um. Ich oute mich, und nach einer Schreckminute finden die Neuseeländer mein Geständnis großartig: super Urlaubsanekdote! Außerdem könnte ich ihnen ja endlich zeigen, wo die Nackten liegen. Die nächsten Stunden bin ich Stadtführerin. Dass ich wirklich Katarina heiße, glauben sie mir aber nicht mehr. Fotos: K. Bader

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