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Hauptsache, es dreht sich was

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Auflegen in der Loge eines Kinos? Plattenkisten in feuchte Keller schleppen? Über eine Feuerleiter zum Arbeitsplatz? Eigentlich gehört München nicht zu den Orten, an denen man besonders abenteuerliche DJ-Wirkungsstätten vermutet, herrscht doch in den Clubs stromlinienförmiger Snobismus, muss die dekorative DJ-Kanzel allzuoft den Mehrwehrt schaffen, den der Einheitssound unterschlägt. Und doch gibt es noch die Orte, an denen sich Plattenaufleger alter Schule bewähren können. Wo Liebhaberei gefragt ist – und das unter oft extremen Bedingungen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Xcess-Bar Wohnzimmer-Ambiente bietet das X-Cess in der Jahnstraße: Zusammengewürfelte Sofas, Flohmarkt-Accessoires und Wandschmuck zwischen Zeitungsausschnitt und Florian Süssmayr-Ölbild – und seit neuestem auch ein DJ-Pult. Vorher hatte der Musikunterhalter einen recht zugigen Arbeitsplatz am Stehtisch zwischen Theke und Toilettentür. Wer mit ihm sprechen wollte, musste auf die nächste Lücke zwischen kommenden und gehenden WC-Gästen warten, und hoffen, dass nicht jemand mit fast platzender Blase ihn wieder unzimperlich aus dem Weg schob. Angefangen hatte alles vor sieben Jahren mit einer Schnapsidee: Damals drehten sich im X-Cess noch Dönerspieße statt Plattenteller und die Kundschaft bestand oft aus kartenspielenden Männern. DJ Christos vom benachbarten Plattenladen Optimal kam zum Fußballgucken herein – und holte abends spontan zwei Plattenspieler rüber, um mit Freunden Elvis' Geburtstag zu feiern. Bis heute ist der Laden angenehm unprätentiös geblieben: Wer auflegen will, muss sich ein halbes Jahr vorab in einen Kalender eintragen und kann dann seine gesamte Freundesblase endlich mit dem beglücken, was sonst immer für entnervtes Augenrollen bei den Kollegen in den renommierteren Tanzschuppen sorgt. Als Bezahlung fließt Freibier. Und wenn Sonntags Christos den DJ bestellt, lässt sich mit zunehmendem Alkoholpegel wunderbar die Beziehung zwischen Calypso, Northern Soul, Reggae und Johnny Cash studieren. (Xcess-Bar, Kolosseumstraße 6)


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Jennerwein Manchmal muss man im Jennerwein die Ellbogen einsetzen. Um seine Platten vor unbeabsichtigten Scratch-Einlagen vorbeirauschender Mäntel und Jacken zu schützen. Oder zu verhindern, dass ein rhythmisch zuckender Gäste-Hintern den Tonarm mitreißt. Stehen doch die Plattenspieler auf einer Sitzbank an der Wand und wenn die kleine verdampfte Stube richtig voll wird, zieht es die Masse mit Macht zu den vermeintlich letzten noch freien Platz. Das ist der Nachteil dieses demokratischen DJ-Ortes. Andererseits: Befeuert nicht gerade die Nähe zum tanzenden, mitschnippenden, Biergläser anstoßenden Klientel den Mann an den zwei Technics zu besonders gewagten Manövern? Tatsächlich gibt es in München wenige Orte, an denen DJs so freie Hand genießen wie im Jennerwein. Wo man Andre Williams und die Dead Kennedys, Grandmaster Flash und Cajun-Akkordeons im selben Mix hören kann – und Gäste zuweilen auch eine eigene Lieblingsplatte aus der Tasche ziehen. Überall sonst der Alptraum des DJs. Hier aber kann man sich auf guten Geschmack verlassen. Auch den der Besucher. (Zum Jennerwein, Belgradstraße 27)


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Substanz Als das Substanz vor 15 Jahren eröffnete, galt der Schuppen mit den Holzdielen vielen noch als Punkerladen – schließlich liefen hier immer wieder Gruppen abgerissener Biertrinker mit Schäferhund ein, während aus den Boxen aggressiver Lärm von den Ramones bis Ice-T donnerte. DJs mit anderen Musikvorlieben hatten es damals nicht leicht: Kam der Mix nicht hardcore genug konnte schon mal eine Hunde-Patrouille am Plattenpult aufkreuzen. Soul aufgelegt? Mittelfinger! Einen Countryabend plakatiert und dabei versehentlich ein paar misstrauisch beäugte Schmalztollen in den Laden gelockt? Fascho! Und dann waren da noch die betrunkenen Chaoten, die mit der Faust auf den Plattenspieler hauten, um ihren Musikwünschen Nachdruck zu verleihen. Folge: Ein gesplitterter Technics und die Installation eines Knopfes am DJ-Pult, mit dem man im Notfall Hilfe herbeiklingeln konnte. Heute hat sich die Beziehung zwischen Gästen und Personal so weit gelockert, dass etwa Sir Henri alias Don Schmocko jeden Samstag seine Soul- und Modrock-Schlager von einem hart an der Tanzfläche aufgebauten Tisch aus abfeuert – auf Augenhöhe mit den Tänzern. Angst um seine Platten hat er trotzdem nicht: „Ein paar Spritzer Redbull auf das Mischpult waren bisher das Schlimmste“. (Substanz, Ruppertstraße 28)


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Pimpernel Das Pimpernel hatte einst einen hohen Abschreckungsfaktor: Allein die Tatsache, dass man von außen nie wusste, was einen hinter der dunklen Holzverkleidung dieses Mythen-umrankten Lastertempels erwartete – Künstler, Schwule, Transsexuelle, Bordellkönige, CSU-Politiker, oder alle zusammen – machte den Besuch zu einer Mutprobe für Außenstehende. Besonders, da man ja auch noch an der Tür klingeln musste. Die Türklingel und die Türsteher sind geblieben. Der Rest hat sich gründlich verändert: Große Glasscheiben, ein studentisch-heterosexuelles Partypublikum. Und ein DJ, der nicht mehr wie einst Giorgio Moroder auf dem schmucken Holzbalkon über der Tanzfläche residiert, sondern auf selber Ebene wie seine Gäste steht. Vor drei Jahren waren es noch ein paar Bierkästen, auf denen einige DJ-Pioniere mitten im urbanen Brachland ihre Plattenspieler aufbauten. Und mit Soul Allnightern eine neue Szene anlockten. Inzwischen ist der Soul im Pimpernel selten, der Mainstream-kompatible Electro und House fast die Norm geworden. Und doch weht hier an manchen Abenden immer noch der Geist von damals, als Freddie Mercury und Rainer Werner Fassbinder zu den Stammkunden gehörten, Sven Väth die Platten des Vor-DJs einfach vom Balkon kickte und man Männer und Frauen nicht mit letzter Sicherheit voneinander unterscheiden konnte. Vor allem wenn Hias Schaschkos Stöhn-Marathon „Heavy Breathing“ auf dem Programm steht. Eine Tour de Force durch die stöhnende, lechzende, feucht atmende Softporno-Animation. Dann machen auch die 40 Jahre alten, rot leuchtenden Orgienbilder an den Wänden wieder Sinn. Zumal wenn plötzlich wie aus der Zeitmaschine ein Lack-und-Leder-Pärchen auftaucht, und auf dem Tresen tanzt. (Pimpernel, Müllerstraße 56)


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Illustration: Julia Schubert

Baader Cafe Manchmal wird es in dem traditionsreichen Literaten-, Künstler- und Boheme-Treff richtig lustig. Etwa wenn die Wirtin selbst auflegt, sich am eigenen Alkoholvorrat gütlich tut und schließlich Anfang und Ende eines Musikstücks nicht mehr so recht auseinanderhalten kann. Wenn acht Stunden lang ausschließlich Songs von Hank Williams laufen. Oder wenn ein ausgewiesener Blues-, und Jazz-Experte wie Richard Oehmann vor seinen Plattenspielern sitzt, mit spitzen Fingern unerhörte Percy Mayfield-, Jimmy McCracklin- und Solomon Burke-Scheiben auflegt und dabei Löcher in die Luft über dem Thekenraum starrt, kann der Ellbogenkontakt zu den einsamen Barwölfen bisweilen zum Alptraum umschlagen. „Da gibt es immer wieder Schlaumeier, Quatschköpfe und Nervensägen“, weiß Oehmann, „die sich unheimlich auskennen, jedes Stück hinterfragen und es dir auch noch übel nehmen, dass du die1963er statt der angeblich besseren 1958er Version spielst“. Dann heißt es stur nach vorne schauen, und hoffen, dass sich bald ein paar hübsche Mädchen als Puffer und Blickableiter mit auf die Bank schieben. (Baader Cafe, Baaderstraße 47) Jonathan Fischer ist selbst DJ und schreibt auf jetzt.de die Kolumne „Mies aufgelegt“

Text: jonathan-fischer - Fotos: Juri Gottschall

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