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"Ich bin doch nicht Lena. Ich bin 70!"

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jetzt.de: Herr Gauck, haben Sie die Wochen vor der Wahl zum Bundespräsidenten verdaut? Joachim Gauck: Das Geschehen war ja keine Krise. Rein rechnerisch war es von Anfang an klar, wie diese Wahl ausgehen würde. Und ich gehörte zu denen, die in meinem Umfeld am realistischsten waren. jetzt.de: Aber der Wahltag war auch für Sie spannend, oder? Gauck: Die Dramatik am Wahltag ist das eine. Das andere war dieser völlig ungewöhnliche Zuspruch insbesondere von der jüngeren Bevölkerung. Das war überraschend. Und beglückend. jetzt.de: Wie alt sind ihre vier Kinder? Gauck: Das älteste Kind wird 50. Die jüngste ist 31. jetzt.de: Haben die Ihnen erklärt, was im Internet geschah? Dass da auf Facebook Zehntausende für Sie ihre Gesichter zeigten? Gauck: Das hat mir mein ältester Sohn erklärt. Der hat die DDR am intensivsten erlebt und darum ist er bei politischen Fragen noch engagierter als die Jüngste. Obwohl er jeden Tag im Klinikum in Hamburg operieren musste, hat er immer die halbe Nacht am Computer gesessen und mich informiert. Ich habe ja selber nicht ein einziges Mal Facebook aufgemacht. Ich weiß bis heute nicht, wie das geht. Ich habe dann eine Videobotschaft losgelassen, in der ich die Leute bloß angestrahlt habe und gesagt habe: Ist ja super! jetzt.de: Wie erklären Sie sich Ihre Wirkung? Gauck: Christoph Giesa, der Mann, der die Facebookseite ins Leben rief, sagte bei einer Veranstaltung, dass im Netz eine Währung gelte: Authentizität. Das hatte ich noch nie gehört und ich kann es auch nicht verifizieren, weil ich mich nicht im Netz tummle – ich lese gerade mal meine Mails. Wenn das so ist, dachte ich aber, dann ist es ein gutes Zeichen, dass du so viele Anhänger hast. Und das waren ja nicht die einzigen: Neben Abertausenden, die sich im Netz engagierten, kam massive Unterstützung von Bürgerrechtlern, von Künstlern, aus den Medien, aus der Bevölkerung . . . jetzt.de: Was dachten Sie da? Gauck: ,Ich bin doch nicht Beckenbauer. Ich bin nicht Lena. Ich bin 70!‘ jetzt.de: Was bedeutet es, wenn so viele junge Menschen gerade Ihnen applaudieren? Gauck: In großen Teilen existiert eine Kultur des Unbehagens. Wer ein bisschen cool ist, der muss immer frustriert sein und an allen möglichen Dingen leiden. Von der älteren Generation geht immer das Gefühl aus: Nur nicht zu wohl fühlen! Das hängt mit den Schatten der Vergangenheit zusammen. Aber das trifft nicht mehr das Lebensgefühl der jungen Generation. Es gibt viele Menschen, die sagen möchten: Das Land in dem ich lebe ist ein gutes Land. Sie suchen nach Menschen in der Politik, denen sie das auch glauben können. jetzt.de: Aus dieser Zuneigung muss man doch eigentlich was machen, oder? Gauck: Deshalb haben die Politik und zum Teil auch die Medien eine Riesenaufgabe. Wir brauchen unbedingt eine Stärkung der Bürgerbeteiligung an der Parteiendemokratie. jetzt.de: Wie? Gauck: Wir brauchen einladendere Parteien. Es muss einladender sein für die, die sich nicht schon auf Dauer binden wollen. Wo sind die hochengagierten Bürger aus den Initiativen und Vereinen in der Politik? Der nicht in einer Partei organisierte Bürger ist ja nicht automatisch desinteressiert. Er könnte intensiver mitwirken als es jetzt möglich ist.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Sein Sommer war ereignisreich: Joachim Gauck, einst Pfarrer in der DDR und später Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde, war Ende Juni der Kandidat von SPD und Grünen für die Wahl zum Bundespräsidenten. Vor allem im Internet gab es viel Rummel um ihn. Viele junge Erwachsene fanden Gefallen an Gaucks Überparteilichkeit. „Das war beglückend“, sagt er heute. jetzt.de: Naja, wenn ich nicht gerade mit 20 in eine Partei gegangen bin, finde ich später nur noch schwer den Anschluss. Gauck: Sie wollen nicht noch mal dort anfangen, wo der 17-Jährige in der Schülerunion angefangen hat, oder? jetzt.de: Eher nicht. Gauck: Die Nichtparteimitglieder sind zu stark ausgeschlossen, das stimmt. Es fehlen oft nur die Vorbilder, die den Übertritt geschafft haben. jetzt.de: Braucht man vielleicht sowas wie ein Auffangbecken für die Engagierten? Eine Institution? Vielleicht so etwas wie eine politische Akademie, die eine bestimmte Zeit dauert und für Leute in jedem Lebensalter zugänglich ist? Gauck: Ich finde diese Idee reizvoll, weil es mehr wäre als das, was wir haben. Wir haben in Deutschland wunderbare Einrichtungen wie unsere politischen Stiftungen, die Evangelischen und Katholischen Akademien, private Stiftungen oder gewerkschaftliche Institutionen, in denen wir uns politisch weiterbilden können. Was Sie beschreiben wäre etwas, das darauf aufgesattelt wäre. Es wäre mehr als der Kursus an der VHS. Es wäre zum Beispiel etwas für Menschen, die Schülersprecher an einer Schule waren oder die hochschulpolitisch aktiv waren. Man könnte sich die Zeit dort zertifizieren lassen und dieses Zertifikat müsste eine vertrauensbildende Maßnahme für Parteien sein. Die sollen sehen: Da sind Leute, die haben sich wirklich engagiert. Die wachsen uns zu! jetzt.de: Ihr Vater wurde nach Sibirien in ein Arbeitslager verschleppt, Sie waren Pfarrer in der DDR, Sie haben die Wiedervereinigung begleitet: Kann es sein, dass uns nur Krisen ordentlich politisieren? Gauck: Nein. Jedenfalls nicht ausschließlich. Sie können ja auch einen politischen Eros haben. Dass Sie sagen: Ich will gestalten! Aber natürlich beziehen Krisenzeiten die Wachsamen stärker in die Politik ein. Bei vielen jüngeren Leuten löst die Bedrohung der Umwelt Engagement aus. Vorher war es die Bedrohung des Friedens im Kalten Krieg. Jetzt gibt es Leute, die sich für Grundrechte interessieren: Sind wir schon bei einem Überwachungsstaat, wenn fortwährend Daten der Bürger erfasst und gesammelt werden? Da engagieren sich durchaus Menschen, ebenso wie bei sozialen Problemen. jetzt.de: Sie haben immer um Freiheit gekämpft, während wir, die jüngere Generation, mit ihr aufgewachsen sind. Finden Sie es komisch, wenn wir uns manchmal plagen, das Richtige mit unserer Freiheit anzustellen? Gauck: Wenn Sie auf sich hören und offene Augen für die Menschen und die Welt haben, werden Sie auch aus dieser scheinbar so ruhigen Welt, in der die Freiheit garantiert ist, Signale empfangen. Dann wird die Freiheit zur Verantwortung.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

jetzt.de: Was heißt das? Gauck: Sie begreifen, dass es nicht nur eine Freiheit von etwas, sondern auch eine zu etwas, für etwas gibt. Zu unserem Glück gehört es zum Beispiel, einen Partner zu haben. Wir wollen lieben. Wenn das gelingt, wird es uns plötzlich wichtig, dass wir für den Partner auch was tun können. Wir wollen für ihn/sie da sein, wir erleben uns als auf ein Gegenüber bezogen. So ist das auch, wenn man ein Bürger sein will. jetzt.de: Was folgt daraus? Gauck: Dieses „in Beziehung setzen“ macht glücklich. Schauen Sie sich die Gesichter des Bundesjugendorchesters an, wenn sie musizieren! Oder die Jungs von der Freiwilligen Feuerwehr, wenn sie sich nach der Übung einen einschenken! Wir sind nicht dafür da, dass wir auf dem Sessel sitzen und in den Fernseher glotzen. Glück kommt nicht, Glück wird. Das ist etwas, was sie begreifen müssen: Wir alle begreifen das Glück der Freiheit stärker, wenn wir uns beteiligen. Das ist das große Geheimnis von gelingendem Leben. jetzt.de: Sie erzählen recht offen aus Ihrem Leben. Fehlen uns Politiker, die Politik als Ich-Geschichte erzählen können? Gauck: Wir hätten viele, die das könnten. Aber sie fürchten sich davor. jetzt.de: Was ist mit Angela Merkel? Vielleicht hätten wir an ihr auch mehr Spaß, wenn Sie zugänglicher wäre? Gauck: Frau Merkel hat fortwährend gelernt. Sie hat die Sprachmuster der Politik sehr eifrig studiert und sie beherrscht sie. Wonach Sie fragen, das ist eine andere Dimension. Ich weiß nicht, ob wir jederzeit diese personale Dimension in die Politik mit einbeziehen können. Das ist meine Art. Sie sagen nun, Sie vermissten das bei Frau Merkel. Wenn Sie aber hier vor Ihnen sitzen würde, könnte es sein, dass diese Kommunikation mit ihr gelingt. Aber dazu bedarf es eines Zutrauens. In der Politik ist dieses Zutrauen zu anderen selbstmörderisch. Der Misstrauische ist da oft auf der sicheren Seite. jetzt.de: Sie sind nicht misstrauisch? Gauck: Nur selten, vielleicht sogar zu selten. Ich denke nicht immerfort daran, wie ich mich schützen kann. jetzt.de: Ein ziemlich wichtiger Punkt in Ihrem Leben war der Abschied Ihrer Söhne. In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie die beiden 1987 zum Bahnhof gehen und in den Westen ausreisen. Warum sind die beiden damals gegangen? Gauck: Jeder, der in der DDR Abitur machen wollte, musste eine staatliche Genehmigung dazu haben. Meine Kinder waren aber nicht Mitglieder der Jungen Pioniere und der Freien Deutschen Jugend. Dadurch konnten sie kein Abi machen. Sie kriegten nicht mal die Lehrstellen, die sie gerne gehabt hätten. Dann haben beide Orthopädiemechaniker gelernt und der ältere hat später nebenher das Abitur nachgemacht. jetzt.de: Das ging? Gauck: Das haben sie gnädigerweise erlaubt. Dann hat sich mein Ältester zum Medizinstudium beworben und wurde mehrmals abgelehnt. Schließlich sagte er: 'Ich halt's nicht mehr aus, ich stelle einen Ausreiseantrag.' Sein Bruder hat es zeitgleich auch gemacht, er wollte nicht versauern: 1983 haben beide den Antrag gestellt. jetzt.de: Wie alt waren die zwei da? Gauck: 22 und 20. Als 27jähriger Familienvater konnte der Große dann 1987 nach der Ausreise in Hamburg studieren. Heute ist er dort Oberarzt, der andere ist Beamter in Schleswig-Holstein. jetzt.de: Sie schildern diesen Abschied sehr bewegend. Gauck: Sehr viele jüngere Menschen sind beim Lesen der Stelle, wo die Jungs am Bahnhof stehen - plötzlich sind sie weg und wir wissen nicht, wann wir sie wieder sehen! - emotional stark angefasst. Da habe ich gemerkt, dass es sich gelohnt hat, dass ich in diesem Buch zu meinen Gefühlen gegangen bin. Beim Schreiben kamen mir die Trauer und die Tränen, die ich mir auf dem Bahnhof beim Abschied verboten hatte. Ich wollte stark sein! Meine Frau brach damals zusammen und ich habe so getan als sei das normal ... jetzt.de: Weil Kinder eben ausziehen. Gauck: So habe ich da rumgetönt! Ich spielte den kühlen Mann. Erst 25 Jahre später schreibt derselbe Mann, der aber nicht mehr derselbe ist, diese Szene nieder. Und da ist lauter Wasser. Auf dem Papier. Spätes Wasser. jetzt.de: Warum? Gauck: Der alte Mann, der Tränen beim Abschied seiner Söhne weint, betrauert wohl auch, dass er selbst lange Zeit seines Lebens nicht in Freiheit leben konnte. Dieser Prozess der Trauer über weggenommene Freiheitsräume steht vielen Menschen, die in der Diktatur gelebt haben noch bevor. jetzt.de: Sind Sie zufrieden, so wie es heute ist? Gauck: Ich bin zufrieden. Und dankbar. Ich bin angekommen im Leben, ohne dass ich je einen Fahrplan gesehen habe. Das ist, in der Sprache des Glaubens, Gnade.

Text: peter-wagner - Fotos: Regina Schmeken, rtr

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