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Freiheit


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Olga, 27, Fotografin aus Moskau

Ich kann nicht mehr zählen, wie viele Passbilder ich in den letzten Jahren machen musste. Ich arbeite als Fotografin und muss öfter wegen Ausstellungen und Fotoaufträgen in die EU. Dafür brauche ich jedes Mal ein Visum. Das heißt: Passfoto besorgen, Hotelreservierungen, Rückfahrtticket, Versicherungen und Bescheinigungen, dass ich Geld verdiene. Als Freiberufler muss ich immer meine Mutter bitten, für mich zu bürgen. Unabhängigkeit sieht anders aus.

Ich finde es unglaublich, dass ihr spontan beschließen könnt, am nächsten Tag in ein anderes EU-Land zu fliegen. Ich muss drei Wochen Vorlaufzeit einplanen. Als ich zum ersten Mal in der EU reiste, konnte ich es nicht fassen, dass ich nachts in den Zug stieg und am morgen drei Länder weiter aufwachte. Ihr könnt einfach in ein anderes Land ziehen und dort arbeiten, ohne einen kniehohen Stapel Unterlagen auszufüllen! Wäre ich eine von euch, würde ich versuchen, an allen Orten in der EU gelebt zu haben, die mich interessieren. Diese Freiheit ist für mich ein Symbol für Europa. Das und der Döner. Den gibt es nämlich an jedem Bahnhof, egal wo man aus dem Zug steigt.

Sicherheit


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Lukas, 29, Biochemiker aus Denver

Freiheit bedeutet für mich vor allem: Raum. Viel Raum! Dafür liebe ich die USA, denn Platz gibt es hier für jeden mehr als genug. Ich hab vier Jahre in Deutschland meine Doktorarbeit geschrieben, seither weiß ich: Bei euch in Europa ist Raum begrenzt. Ich habe in einem Wohnheim gelebt, auf 14 Quadratmetern mit den niedrigsten Decken, die ich je gesehen habe. Hier in Colorado wohne ich mit ein paar Freunden in einem Haus mit Garten und Veranda.

Dafür fasziniert mich, wie viele krasse regionale Unterschiede es in Europa auf kleinstem Raum gibt. Du setzt dich in München ins Auto, fährst zwei Stunden und steigst in einer anderen Welt wieder aus weil du in Italien bist! Worum ich euch Europäer auch beneide: die Sicherheit in euren Städten. In Columbus, Ohio, wo ich herkomme, kannst du auch als Mann auf keinen Fall nachts alleine zu Fuß durch die Stadt gehen. Ständig passieren Überfälle, diese latente Bedrohung spürst du jederzeit. Auch wenn das vielleicht objektiv gesehen Unsinn ist: In Europa hab ich mich überall sicher gefühlt. Allein, dass bei euch niemand Waffen trägt, ist ein sehr beruhigendes Gefühl.

Pragmatismus


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Seza, 23, Mitarbeiterin der UN Flüchtlingskommission aus Beirut

Ich liebe es, dass ihr Europäer nach zwei brutalen Weltkriegen gelernt habt, zu vergeben und weiterzumachen. Ihr habt eure Länder wieder aufgebaut, ohne Groll zu hegen! Zu euch zu reisen ist für mich schwierig, der Visa-Prozess gibt mir manchmal das Gefühl, dass Europäer dazu neigen, Menschen zu kategorisieren.

Manche meckern ja auch über ,Migranten, die nach Europa kommen und von ihren Sozialsystemen profitieren. Dabei vergessen sie, dass Europa auf einer kolonialen Vergangenheit aufbaut, in der Länder jahrelang ausgebeutet wurden! Ich lebe in einem Land, in dem Politiker eine ausgewählte Elite sind, die seit Jahren an der Macht ist. In dem die Begriffe Pünktlichkeit, Professionalität und Leistungsgesellschaft fast unbekannt sind. Der Religion wird zu viel Gewicht gegeben, während Wissenschaft und Literatur hinterherhinken. Sex vor der Ehe, WGs und Säkularisation sind hier Tabus dass das bei euch selbstverständlich ist, bewundere ich. Europäer sind oft etwas kühl und steif, ich fände es super, wenn ihr mehr von der libanesischen Wärme und Flexibilität hättet. Aber zu viel davon macht dich fertig.

Auf der nächsten Seite: Protokolle aus Brasilien, Israel und der Schweiz.


Modernität


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Juliana, 33, Psychologin aus Brasília

Portugal hat Brasilien die Zivilisation gebracht, lernen wir in der Schule dabei war es vor allem Schrecken und Leid. Als Jugendliche hielt ich Europäer für Ausbeuter, die die Vorräte ihrer eigenen Länder verbraucht haben und deshalb den Rest der Welt aussaugen. Ich gab Europa die Schuld an der Unterentwicklung aller armen Länder. Heute sehe ich das anders, weil ich weiß, wie viel die EU gegen die Zerstörung der Welt tut.

Im Vergleich zu euch kommt es mir oft vor, als liefe Brasilien entgegengesetzt zur Evolution der Menschheit: Hier fahren immer mehr Leute ihr eigenes Auto, statt sich in öffentliche Verkehrsmittel zu setzen. Wir haben Wahlpflicht. Und auch das Drogenproblem regelt ihr deutlich liberaler unser ,Krieg gegen die Drogen bestraft vor allem die Ärmsten.

Ich war noch nie in Europa, aber Besucher von dort reden oft über die ,falsche Freiheit in Brasilien, diesen heuchlerischen Machismo. Wir haben die kleinsten Bikinis der Welt, aber oben ohne am Strand liegen ist streng verboten. Da können wir viel von euch lernen. Und ihr? Könntet euch mal ein Beispiel an unserer Fröhlichkeit nehmen.

Gemeinschaft


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Imri, 27, Student aus Tel Aviv

Wenn ich in Tel Aviv Leute frage, was Israel mit Europa verbindet, dann wird oft die Demokratie genannt. Israel ist das einzige demokratische Land im Nahen Osten, allein deshalb teilen wir schon bestimmte Überzeugungen und Sichtweisen mit der EU. Das spüre ich auch, wenn ich mit Freunden diskutiere. Eine kulturelle Verbundenheit irgendwie, eine generelle Sympathie.

Trotzdem gibt es politisch schon auch Konfliktpunkte. Die EU kritisiert beispielsweise ständig die israelische Siedlungspolitik. Ich bin selber auch gegen die Siedlungen, weil sie die Friedensverhandlungen so krass erschweren. Aber ich finde es scheinheilig, dass Israel dieser Kritik so stark ausgesetzt ist, während in den Nachbarländern teilweise noch viel schlimmere Dinge passieren: Kindermassaker in Syrien, Hass- und Terrorausbildungen durch die Hamas und die Hisbollah im Libanon und auch im Gaza-Streifen.  

Und ein riesiger Unterschied zwischen der EU und Israel sind die Grenzen. Ich kann als Israeli zwar momentan ohne große Probleme durch die Westbank fahren, aber offene Grenzen sind was ganz anderes, das habe ich auch auf meinen Reisen durch Europa gemerkt. Klar unterscheiden sich die europäischen Länder untereinander. Man wird aber nicht komisch angeschaut oder muss Angst haben, angegriffen zu werden, nur weil man sich auf der einen oder anderen Seite einer Grenze aufhält. Außerdem stärkt es eine Region, wenn sie sich zusammenschließt. Ganz unkontrollierte Grenzen finde ich aber auch schwierig. Ich weiß, dass ihr Europäer das oft anders seht, aber ich glaube, dass Europa wegen der vielen Migranten, die auch unter sich bleiben, vor einem großen Kulturkonflikt steht.

Wohlstand


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Natascha, 24, Studentin und Krankenschwester aus Zürich  

Wenn ich an die EU denke, habe ich sofort das Gefühl, dass sie etwas Machtvolles ist. Eine Region, die Wohlstand und Gemeinschaft ausstrahlt. Dabei sehe ich wie viele junge Schweizer die EU aber auch kritisch, ich hinterfrage dieses Machtvolle. Denn die EU ist künstlich erschaffen, aber nicht zu Ende gedacht. Im Prinzip ein Konstrukt ohne stabile Basis. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass manchmal neue Länder aufgenommen werden, ohne dass sie die Wirtschaft der bereits dazugehörenden EU-Länder stabilisieren. Klar, für internationale Firmen ist die EU sicher trotzdem ein vorteilhafter Markt. Mein eigenes Leben beeinflusst die EU aber eigentlich nicht so sehr.

Ich finde auch die Schweizer Direktdemokratie besser als das europäische Monsterparlament, bei dem die Übersicht schnell verloren gehen kann und die Parlamentarier bestimmt eher egoistische Entscheidungen treffen. Die Verbindung zu den Menschen geht bei einem so großen Parlament verloren und die Wirtschaft wird viel anfälliger für Krisen. Die Bürger werden vernachlässigt, während die Direktdemokratie fair ist gegenüber dem Volk. Viele denken bei den Schweiz-EU-Beziehungen bestimmt auch an den Volksentscheid, bei dem wir entschieden haben, die Zuwanderung zu stoppen. Ich habe zwar nicht dafür gestimmt, kann aber beide Seiten verstehen. Die Personenfreizügigkeit ist ein Grundsatz der EU und deshalb ist es klar, dass die jetzt einige Projekte mit uns einschränkt. Dabei ist die Schweiz eben kein EU-Land. Sie zahlt aber trotzdem Millionen an Bildungsgeldern, Kulturförderung und Forschungsgeldern an die EU. Das wird in der Debatte oft vergessen.

Text: jetzt-redaktion - Protokolle: Wlada Kolosowa, Nadja Schlüter, Nicola Staender, Jan Stremmel; Fotos: oh

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