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„Jeder kleinste Hinterhof wird bebaut“

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Ausgehen in München verändert sich. Rund um den Gärtnerplatz öffnen in regelmäßigen Abständen neue Bars und Cafes – und machen die Gegend zum wichtigsten Ausgeh-Viertel in München. jetzt.muenchen hat zwei Kennerinen der Szene zum Interview gebeten: Mary McLaughlin und Dagmar Erdmann arbeiten seit Jahren im Gärtnerplatz-Viertel Mary (53) ist Mitbesitzerin des Baader Cafe (Baaderstraße), Dagmar (37) arbeitet seit elf Jahren im Holy Home (Reichenbachstraße). jetzt.muenchen: Ihr arbeitet in Institutionen des Viertels: Das Baader Cafe gibt es seit 23 Jahren, das Holy Home seit 12 Jahren. Habt ihr andere Gäste als vor zehn Jahren? Dagmar: Früher, als ich im Holy angefangen habe, da kannten sich noch alle untereinander. Das war wie ein Wohnzimmer. Jetzt sehe ich kaum noch bekannte Gesichter. Dieses heimelige Gefühl habe ich eigentlich nur noch unter der Woche. Mary: Ich habe den Eindruck, dass sich alle fünf bis zehn Jahre das Publikum auswechselt. Der Gärtnerplatz ist mittlerweile das Ausgehviertel in München. Wie äußert sich das bei euch? Dagmar: Es ist einfach vermasst. Plötzlich kommt eine Horde Abiturienten rein, die alle Caipirinha bestellen. Das gab es früher nicht. Mary: Stimmt. Früher ging man gezielt ins Holy oder ins Tanzlokal Größenwahn. Aber es gab nicht dieses Barhopping, nicht diesen Vierteltourismus. Dagmar: Das Holy Home hat ja so einen angenehmen Ranzfaktor. Früher kamen deswegen vor allem Leute, die eher auf Indie stehen. Heute kommen auch, na ja ich sag mal, so typische BWLer. Und viele Touristen. Mary: Wir sind davon zum Glück etwas verschont. Die Reichenbachstraße ist aber auch näher am Geschehen dran. Wie war das denn früher? Dagmar: Mittlerweile ist alles so furchtbar hip geworden. Das war früher nicht so eine Massenattraktion. Besonders im Sommer ist am Gärtnerplatz die Hölle los. Dieses Jahr habe ich Leute gesehen, die kamen mit einem Auto zum Gärtnerplatz und haben einen Kasten Bier ausgeladen. Nur um sich auf die Stufen vom Theater zu setzen! Mittlerweile kommt zu uns einfach jeder. Früher hast Du im Holy keine Milchbargänger gesehen. Mary: Das mit dem draußen Trinken ist ja ein weltweiter Trend. In Barcelona und überall gehen die Leute mehr auf die Straße. Dagmar: Das finde ich ja auch gut. Nur dafür ist München vielleicht einfach zu spießig. Hier beschweren sich ja sofort die Anwohner. Mary: Ein bisschen kann ich die Anwohner verstehen. Aber nur ein bisschen. Seit wann ist das so? Gab es einen Punkt, an dem sich das geändert hat? Mary: Das ging los, als der Kunstpark dicht machte. Dagmar: Ja, auf einmal haben die ganzen Clubs gefehlt. Mary: Früher da ging man ins Tanzlokal oder vielleicht ins Mandys und das war’s.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Man hat das Gefühl, dass hier jeden Monat ein neuer Laden aufmacht. Macht euch die Konkurrenz nicht Sorgen? Mary: Eigentlich nicht. Es gibt immer wieder Durststrecken. Ende der 80er waren wir die einzige Bar hier. Aber man muss immer wieder an sich arbeiten. Dagmar: Das Baader ist ja auch eine Institution hier. Früher hieß es schon: „Hast du schon gehört? Da hat ein neuer Laden aufgemacht!“ Aber das hat sich gelegt. Mir macht das keine Sorgen, wenn schon wieder irgendeine neue „Lounge“ aufmacht. Mary: Mir ist das relativ egal. Ich gehe schon lange nicht mehr weg. Wohnt ihr denn auch hier im Viertel? Dagmar: Hier ist es einfach wahnsinnig teuer. Ich wohne in der Maxvorstadt. Aber da gehe ich nicht weg. Ich habe einfach keine Lust auf Besoffene in irgendwelchen TexMex-Schuppen. Mary: Ich wohne schon immer in Neuhausen. Das hat aber auch preisliche Gründe. Eigentlich ist hier ja auch das Schwulenviertel. Mary: Die ganzen Schwulenbars gibt es natürlich noch. Aber davon merkt man immer weniger. Dagmar: Es ist separierter. Früher verschmischten sich Schwule unter Heteros viel mehr. Gentrifiziert das Gärtnerplatzviertel? Mary: Ja! Dagmar: Billig war es hier noch nie. Aber jetzt ist es schon sehr schick. Alles wird renoviert. Mary: Jeder kleinste Hinterhof. Dagmar: Wirklich schade war es, als dieser Hinterhof schließen musste, da wo die Serie A war. Welche Gäste nerven euch? Dagmar: Oh ja, aber wie soll ich das am besten ausdrücken? Mir kommt gerade der Hass hoch. Sagen wir so: Es gibt viele Arschlöcher. Mary: Das ist eine persönliche Sache. Aber ich rege mich immer weniger auf. Dagmar: Mich nerven vor allem ungeduldige Gäste. Solche, die noch bevor sie ihre Jacke ausgezogen haben und sitzen: „Ein Bier!“ rufen. Ich meine: wir sind hier im Holy. Da geht es um Gemütlichkeit. Die sollen sich mal entspannen. Mary: Keine Manieren sind schlimm. Im Holy Home darf nicht geraucht werden, im Baader Cafe erst ab 22 Uhr. Seid ihr froh über das Rauchverbot? Dagmar: Am Anfang fand ich es furchtbar. Mittlerweile aber bin ich heilfroh. Früher war das Holy Home ja eine Räucherkammer. Mary: Ich finde es auch gut. Freiwillig hätten wir aber nie ein Rauchverbot erlassen. Dagmar: Anfangs blieben auch die Leute aus. Aber das war wie damals bei der Euro-Einführung. Das hat sich auch wieder gelegt. Mary:Alkohol und Zigaretten gehören zusammen. Werden eigentlich andere Getränke bestellt als früher? Dagmar: Seit dem Rauchverbot kommen mehr von diesen Apfelschorle- und Milchkaffeetrinker. Die sitzen dann mit einem triumphierenden Grinsen da, weil sie sich um halb eins noch rauchfrei einen Milchkaffee bestellen können. Ich meine, wir sind eine Bierkneipe! Mary: Und Smoothies gehen gut. Dagmar: Die wollen immer mehr Modegetränke wie Becks Lemon. Das haben wir aber nicht. Mary: Und Cocktails gehen plötzlich wieder besser. Dagmar: Stimmt! Bei uns auch. Mary: Die Leute überhaupt trinken weniger Alkohol. Dagmar: Finde ich nicht. Bei uns kommen oft richtig junge Leute, die sich dann total abschießen. Sagt ihr dann „Stopp, für heute reicht’s“? Mary: Ja, aber das sage ich nicht nur bei jungen Gästen. Dagmar: Irgendwann fühlst du dich ja wie ein Drogendealer. Ich habe da schon Sachen erlebt. Erst letztens kam ein total besoffener Typ, der die ganze Zeit diskutieren wollte, warum er jetzt kein Bier mehr kriegt. Vier Gäste haben ihn dann rausgeschmissen. Er hat sechs Mal versucht, wieder zu kommen. Habt ihr oft Problemfälle an der Bar sitzen? Dagmar: Naja, manchmal frage ich mich schon: Hat der kein Leben? Da kommen Typen, die sitzen jeden Abend an der Bar. Jeden Abend! Irgendwann frage ich sie halt: Wer bist Du eigentlich? Und solche, die unbedingt Stammgäste werden wollen? Mary: Nein, bei uns gibt es das nicht. Aber wir sind ja auch eher Cafe als Bar. Dagmar: Das ist oft ziemlich lächerlich. Da kommen Leute, die sofort „Hi Dagmar!“ rufen, obwohl ich sie kaum kenne. Die rennen dann auch gleich hinter die Theke. Ich sag jetzt besser nichts mehr. Sonst fühlen sich noch manche erkannt. Wie wählt ihr eure Mitarbeiter aus? Kann bei euch jeder arbeiten? Mary: Hier schon. Es kommen ständig welche und lassen ihre Nummer da. Wenn ich jemanden brauche, rufe ich an. Dagmar: Cool müssen sie jetzt nicht unbedingt sein. Aber sie sollten schon irgendwie hier reinpassen. Eine Zeitlang hatten wir ja nur junge, gutaussehende Jungs mit Tattoos hinter der Bar. Da saßen an Tagen, an denen der Tommi oder Flo gearbeitet haben, nur Mädchen an der Bar. Aber viele sind eben auch weggezogen. Kann man in der Gastronomie alt werden? Dagmar: Ich hatte das nie vor. Ich wollte das bloß während meines Studiums machen. Aber irgendwie habe ich den Absprung verpasst.

Text: philipp-mattheis - Foto: Juri Gottschall

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