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Nachmittag im Münchner Olympiapark. Das Drehrestaurant dreht sich, die Jogger joggen und die Chauffeure chauffieren. „The Dome VIP-Shuttle“ steht auf der Tür des Chevrolet, aber niemand öffnet sie. Alle VIPs sind schon da. Sehr viele schlechtgelaunte Latino-Tänzer dehnen sich überall. Ein Zwölfjähriger hat sich auf beide Arme den langen Bandnamen "The All-American Rejects" gemalt. Vor dem Haupteingang sind Viehgatter aufgebaut. In Klassenstärke sortieren sich die Besucher ein. Das ist das „The Dome“-Einlasssystem, sagt Mariella Morawetz, die zuständige Redakteurin von RTL2. Es wird nur gruppenweise eingelassen. Den paar tausend Wartenden ist durch ein Trennwandsystem die Sicht auf den Haupteingang genommen. Scheuklappen, Anti-Panik. Die schönen Massenstarts von Fans, die entweder in die erste Reihe oder sterben wollen? Sind Geschichte, sagt Frau Morawetz. Backstage hat man das Gefühl, man wäre in den eigenen Fernseher geklettert. Im Gang stehen Peyman (Pro 7), DSDS-Dominik (RTL) und der Norweger, der mit seiner Geige vor ein paar Tagen den Eurovision Song Contest gewonnen hat (ARD). „The Dome“ hinten ist eine Art Fachmesse für Angesagte. Man kennt sich vom Sehen. Nicht kennt man: Ein Schild an der Wand, auf dem mit Ausrufezeichen „Rückfahrt-Dispo“ steht, ein Roadie in kurzen Tarnhosen, der Neon liest und die Sanitäter in ihren immer zu großen Leuchtjacken. Zur Bühne geht es kurz treppauf. Dort arbeitet Mike, Aufwärmer seit fast der ersten Stunde, an den Klatschtechniken der Zuschauer. Seit der ersten Show 1997 weiß jeder: Ausflippen gehört hier dazu. Wer hier nicht ausgeflippt ist, war nicht da. Die Kamera am langen Schwenkarm schwenkt, die ersten fünfzig Reihen drehen kontrolliert durch, so lange sie über ihnen schwebt. Wo der Kameraarm nicht mehr ist, kehrt gleich die Normalität des Wartens ein. Um sieben geht es los. Eine halbe Minute massive, vorfreudige Andacht, die Zehntausend sind fast ruhig. Dann donnert ein Jingle in die Halle und brandet in authentisches Ausflippen. Licht, Leinwand, Lärm, alles gleichzeitig. Eine Erlösung. Bis auf den letzten Rang Gänsehaut-Gesichter, wie von Mariella Morawetz prophezeit. Man ist bei „The Dome“. Moderatoren tragen Lederhosen und Mundart-Witze. Immer wenn sie in den nächsten drei Stunden die Stimme heben, müssen alle ausrasten. Das ist wichtig, für die Fernsehbilder. Sie heben die Stimme bei „The Dome“, „50“ und „München“. Dann die erste Band. Musik, darum soll es ja gehen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Der Herr Scooter bei der Aufzeichnung von "The Dome", Nummero 50. Er war da zum 18. Mal. Ein Dome-Auftritt läuft, bisher 1035 mal und an 21 Orten, immer so ab: Act tritt auf und spielt ein Lied, von dem man den Titel nicht kennt, aber die Melodie, nämlich aus dem Radio. Beim Refrain schießen aus dem Bühnenrand Sterne, Flammen oder Silberfontänen und die ersten Reihen schreien vor Wahnsinn oder Angst. Danach brauchen die Roadies etwa sechs Minuten, bis das nächste Schlagzeug und die nächsten Keyboards aufgebaut sind. Früher, das bedeutet Ende der Neunziger, hat kaum einer live gesungen, geschweige denn ein eigenes Schlagzeug dabei gehabt, sagt die Redakteurin. Heute: fast alle live, fast alle mit Band, auch wenn die musiktechnisch gar nichts zu tun hat, wie bei Jeanette Biedermann. Es kommen mittlerweile auch andere, richtige Musikanten. Diesmal: Mando Diao, Selig, Pet Shop Boys, A-ha. Die beiden Letzteren gibt es schon jeweils doppelt so lange wie die Menschen, die 34 Euro gezahlt haben, um sie live zu sehen. Trotzdem jubeln alle, so oft der Name Pet Shop Boys fällt. Vielleicht weil es hier wie Ketchup Boys klingt. Nur bei Lady Gaga schreien sie noch mehr, dabei kommt die heute gar nicht. Die Begeisterung jubelt einfach so heraus. In den kurzen Umbauphasen wird moderiert. Dazu gibt es eine Gästecouch wie bei Gottschalk, auf der das Privatfernsehen seine Kleingewächse wuchern lässt. Popstars- und DSDS-Kandidaten müssen beliebige Einlagen geben, A-capella-Gesang oder irgendwelche Antworten. Eine von DSDS wird ausgebuht und ein Christian Volkmann, Schauspieler von Marienhof, muss Karaoke singen. Das Publikum johlt nicht, kein Handyfotodisplay reckt sich nach oben. C-Star zu sein ist aufreibender als man denkt. Auch die A-Stars sind demütig, während sie die Maschine durchlaufen. Beim Umbau liegt die Bühne im Halbdunkel, aber man sieht natürlich, wie sie reinschleichen. Die Schlagzeuger heben schon die Stöcke und die Keyboarder strecken schon den Hintern durch. So verharrt der britische Sänger James Morrisson fünf Minuten, bis die Moderation auf ihn kommt. Licht an und sofort auch Ballade an. Die Keyboarder wackeln, die Schlagzeuger schlagen, der Sänger spritzt Herzblut. Heute hier von null auf hundert, ist morgen von null auf drei in die Charts. Denn der Dome ist eine starke Marke, sagt die Redakteurin und spricht Dome wie Dom aus. Die Fans verkaufen die Konzerte aus, bevor feststeht, wer überhaupt spielt. Klar, dass alle spielen werden, die man braucht. „The Dome“ ist nach 50 Folgen das, was der Fall ist bei der Zielgruppe. Die Plattenlabel bieten ihre besten Bands an und die Redaktion sucht aus. Die Zielgruppe beginnt bei zehn Jahren, deswegen gibt es auch ein Dome-Begleiterticket, für die Eltern. Die sitzen am Rand, an ein Sony-Ericsson-Plakat gelehnt und halten nicht Benötigtes: Leuchtstäbe, sehr kleine Handtaschen, Papierschilder. Auf den Leinwänden sind Bilder aus den ersten Reihen vor der Bühne zu sehen: gequetschte Mädchen jeden Formats. Wer sich sieht, fängt an zu schreien. Es ist effizienter Popkonsum. Konzerte mit nur einer Band, das denkt man jetzt, sind doch eigentlich auch eine Zumutung. Das hier ist ehrlicher: Jeder spielt seinen Hit, manche auch zwei. So richtig schrecklich sind nur die Dome-Gründungsmitglieder Jeanette Biedermann (16 Auftritte) und Scooter (18 Auftritte). Ihre Musik klingt wie aus einem Museum, das längst für immer zugemacht hat. Bei Scooter flippen die Leute noch aus einem vagen Kultverdacht aus. Bei Jeanette sind sie eiskalt und denken lieber an Lady Gaga. Es gibt eine große Pause. An ihrem Ende ist Cola an den Getränkeständen ausverkauft. Mike fragt von der Bühne: Wer hat eine PS2? Hundert Arme. Wer hat eine PS3? Tausend Arme. Zu gewinnen ist das Spiel Singstar. Mitte der zweiten Halbzeit dauert alles schon sehr lange. Wenn Ohren tränen könnten, würden sie es jetzt. Das Gutfinden ist so anstrengend und der Jubel verebbt immer schneller, trotz Black Eyed Peas und Pet Shop Boys. Dann hat auch noch die Anmoderation nicht geklappt und das ganze Black Eyed Peas-Begrüßungs-Ausrasten muss wiederholt werden. Zwei Moderatoren düpieren die Gäste. Egal, alle tun so, als wäre es die erste Anmoderation. Man muss dem Fernsehen doch helfen.

Text: max-scharnigg - Foto: dpa

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