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Lina allein zu Haus

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Vor zwei Jahren ist Linas Familie ausgezogen. Der Vater war schon länger weg, seit zwölf Jahren, aber 2006 – Lina war gerade 16 Jahre – ging auch ihre Mutter. Nicht, weil Lina so ein schreckliches Kind wäre, sondern weil die Mutter, Ingenieurin für Umweltschutztechnik, in der direkten Umgebung einfach keinen Job fand. So zog sie in einen Ort nahe Bremen und ließ Lina, die zu der Zeit gerade die elfte Klasse besuchte, in der 250 Kilometer entfernten Wohnung in Borken zurück. In Gesellschaft einer Katze.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

War auf einmal allein: Lina sieht ihre Mutter nur noch am Wochenende, Foto: Dominik Asbach „Ich wollte es genau so“, erinnert sich Lina heute. „Die Vorstellung umzuziehen, alle meine Freunde zu verlieren und nicht nur mich, sondern auch mein Pferd an eine neue Umgebung zu gewöhnen, war schrecklich.“ Es war in der Situation die beste Lösung, Lina ist sich da sicher. Und trotzdem kann sie die Begeisterung ihrer Freunde nicht verstehen. „Die sagten alle: ,Mensch, toll, die ganze Wohnung für dich allein – mit 16!’, aber ich habe schnell gemerkt, dass das gar nicht so toll ist.“ Auf einmal hatte Lina jede Menge zu tun. Neben Schule und Reitstall wartete ein ganzer Haushalt darauf, in Ordnung gehalten zu werden. „Meine erste Erkenntnis war: Klopapierrollen wechseln sich nicht von allein.“ Am Anfang stand der große Masterplan, den sie mit ihrer Mutter Petra, 51, ausgearbeitet hatte. Er beinhaltete unter anderem eine Diensteliste, die am Kühlschrank hing und sehr lang war: Putzen, Wäsche waschen, Blumen gießen. Ganz unnütz war die Liste nicht, denn selbst das Einkaufen hat Lina manchmal vergessen. Dann war nichts mehr im Haus außer einer Packung Müsli. Aber es waren nicht nur praktische Dinge, die Lina lernen musste. „Das Alleinsein fiel mir zu Beginn sehr schwer. Wenn ich Zuhause war, lief ständig das Radio, weil ich andere Stimmen hören musste. Aber die meiste Zeit habe ich sowieso woanders verbracht: bei Freunden oder bei meinem Pferd.“ Der Reiterhof und die Leute dort wurden zu Linas Ersatzfamilie. Zuhause warteten schließlich nur die Katze, das Radio – und die Hausarbeit. Manchmal konnte Lina nicht widerstehen und schwänzte, hin und wieder, die Schule. Schließlich war keiner da, der sie aus dem Bett warf und ihr im Zweifel mit Strafen drohte. Das mit dem Schwänzen hat sich inzwischen gebessert, das mit den Linas Kochkünsten jedoch eher nicht: „Ich beherrsche Milchreis, Nudeln mit Tomatensoße und Reis mit Hühnchenfleisch. Das ist gerade soviel, dass es für eine Woche reicht. Dann geht es wieder von vorn los.“ Lina überlegt. „Meine Ernährung leidet unter der Wohnsituation.“ Nur am Wochenende nicht. Dann kommt Mutter Petra nach Hause, in die kleine Stadt im Westmünsterland und kocht für ihre Tochter. Ist das dann Alltag? „Eher Sondertag“, sagen beide. „Es kommt in vielen Familien vor, dass ein Elternteil unter der Woche außerhalb arbeitet und wohnt und nur am Wochenende zurückkommt“, sagt Petra. „Das ist dann aber oft der Vater, und er findet Freitagabend ein typisches, ordentliches Heim vor. Für ihn ist es reine Erholung. Auf mich wartet aber Zuhause meistens noch Arbeit.“ Zum Beispiel, wenn Lina mal wieder drei Klausuren schreiben und dafür lernen muss, anstatt die Wäsche zu waschen. „In solchen Phasen ist es für eine Schülerin einfach nicht möglich, auch noch einen Haushalt zu führen“, sagt Mutter Petra und sorgt sich um die liegengebliebene Wäscheladungen. Das Zusammenleben der beiden wirkt harmonisch. Aber das war nicht immer so. Fortsetzung auf der nächsten Seite: Streit zwischen Mutter und Tochter und Jungsbesuch ohne dass die Eltern was merken.


Anfangs gab es fast jedes Wochenende Streit, weil Lina mal wieder nicht geputzt oder die Blumen vernachlässigt hatte. „Heute werfe ich sofort nach dem Aufstehen einen Blick auf unsere Pflanzen und gieße sie. Mit der Zeit wird einem das auch wichtiger“, sagt Lina. Nur mit dem Putzen wurden sich beide nicht einig. „Jetzt kommt alle zwei Wochen eine Putzfrau, die wir uns eigentlich gar nicht leisten können“, sagt Petra. Die Situation der beiden geht ins Geld: Zwei Wohnungen – die in Borken ist übrigens sehr viel größer als die bei Bremen – dazu Benzinkosten und immer weniger Unterhalt. Ihre Kontaktlinsen muss Lina zum Beispiel selbst bezahlen. Dazu gibt sie während der Woche zusätzlich zur Schule noch zwei Mal Reitstunden. „Das nehme ich aber gerne in Kauf. Ich will am Wochenende schließlich auch meine Freizeit haben“, sagt Lina. Die Wochenenden sind etwas Besonderes für Mutter und Tochter. An ihren gemeinsamen Tagen unternehmen die beiden deshalb Dinge, die kein anderer 18-Jähriger mit seinen Eltern machen würde. Im Sommer fahren sie Inliner und gehen spazieren, zusätzlich halten sie Ausschau nach Veranstaltungen, die sie gemeinsam besuchen könnten. „Wir achten genau darauf, welche gemeinsamen Interessen wir noch haben, und gehen regelmäßig in Konzerte oder zu Lesungen. Das läuft in anderen Familien so nebenher, für uns ist das notwendig und sehr wichtig“, sagt Petra. Andere Kontakte leiden bisweilen darunter und Linas oder Petras Freunde handeln sich immer wieder Absagen ein. Das fühlt sich vor allem für Lina komisch an: „Wenn meine Mitschüler fragen, ob ich am Samstag mit auf eine Party gehe, antworte ich manchmal: ,Nein, ich mache was mit meiner Mama’ . . . “ Die Freunde wundern sich und auch der Vater, der nur 30 Kilometer entfernt wohnt, sieht Lina immer seltener, weil sie an den Wochenenden lieber ihre Mutter treffen will. „Er ist aber immer zur Stelle, wenn ich dringend Hilfe brauche. Als mir neulich während der Facharbeit der Computer abgestürzt ist, war er sofort da“. Schlimm ist das Alleinwohnen, wenn Lina krank wird. Mit einer Erkältung zum Arzt zu fahren – auf dem Fahrrad – das mag niemand. An solchen Tagen nimmt sich Petra frei und fährt zu ihrer Tochter. „In solchen Momenten ist es besonders wichtig, dass Jugendliche ein richtiges Zuhause haben, auch wenn das oft gar nicht mehr gewünscht und erst recht nicht bemerkt wird“, findet Petra. „Es geht einfach darum, dass jemand da ist, der morgens ein Brot macht und mittags fragt, wie es in der Schule lief. Das ist keine Erziehung mehr, eher eine Art Begleitung, die Lina sicher oft fehlt.“ Lina sieht die Situation nüchtern. Ihre Erziehung sieht sie als „abgeschlossen“ an und ihre Wohnsituation findet sie inzwischen ganz okay: „Irgendwann hat mir mal jemand gesagt, das sei jetzt zwar schlimm, aber ich solle es einfach als Training für später ansehen. Dann kann ich das nämlich schon – alleine wohnen.“ Dr. Wolfgang Gaiser ist Referent am Deutschen Jugendinstitut in München und stimmt Lina zu. „Die Selbstständigkeit und die Fähigkeit, mit schwierigen Situationen umzugehen, wird bei Jugendlichen wie Lina sicher viel stärker und früher gefördert als bei anderen 16- bis 18jährigen“, sagt er. „Wichtig sind aber die Grundvoraussetzungen, dass es in der Schule gut läuft, man einen festen Freundeskreis hat und die Eltern immer erreichbar sind. Allein wohnen bedeutet schließlich nicht automatisch, dass man sich auch allein fühlt.“ Linas Lebenssituation ist ungewöhnlich: Statistiken über allein lebende Jugendliche in Deutschland gibt es in dem Sinne nicht und am Deutschen Jugendinstitut geht man davon aus, dass die Zahlen sich „im Promillebereich“ bewegen. „Die meisten Jugendlichen ziehen lieber in Wohngemeinschaften, wo man nach Hause kommt und jemanden hat, mit dem man sich austauschen kann“, sagt Wolfgang Gaiser. „Dann muss man nicht dauernd mit der Katze reden.“ Natürlich redet Lina auch noch mit jemand anderem als ihrer Katze. Zwei Mal täglich ruft ihre Mutter an und Lina findet es nervig. „Kontrollieren statt Telefonieren“ nennt sie es. „Sie hat nichts zu erzählen, ich auch nicht, es ist nur so ein: ,Ach, du bist ja da.’“ Für Petra ist es mehr: Es ist der Versuch, einen normalen Kontakt zu halten. Trotz der vielen Telefonate bleiben manche Dinge Linas Geheimnis. „Wenn ich einen Jungen kennen lerne, bekommt Mama das überhaupt nicht mit“, sagt sie. Die Mutter sieht das aber locker. „Nicht alles mitzukriegen wird ersetzt durch einen anderen Kontakt, eine freundschaftliche Ebene. Je mehr Bemutterung da ist, desto weniger erzählt das Kind doch.“ Lina ist in den beiden vergangenen Jahren erwachsen geworden. Die Diensteliste vom Kühlschrank gehört der Vergangenheit an, sie ist jetzt ihre eigene Hausfrau. Und wenn sie in zwei Jahren ihr Abitur macht und als Letzte aus der großen Wohnung auszieht, ist sie optimal vorbereitet für das Leben allein. Was sie gelernt hat? Lina überlegt. „Wahrscheinlich werde ich meinen Kindern auch irgendwann so eine Diensteliste unterjubeln. Aber ausziehen, nur damit sie lernen, wie es läuft – das werde ich bestimmt nicht.“

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