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Mama hat jemanden kennen gelernt

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Wenn sich die Liebe in einer Familie vorstellt, tut sie dies meist in Person eines neuen Freundes der Tochter oder einer neuen Freundin des Sohnes - was aber, wenn plötzlich die geschiedene Mutter jemanden kennen gelernt und ihn mitbringen? Als ihre Mutter nach jahrzehntelangem Dasein als alleinerziehende und berufstätige Frau eines Tages ihrer Tochter Johanna aufgeregt am Telefon erzählte, sie hätte da "jemanden" kennen gelernt, wunderte sich Johanna selbst ein bisschen über ihre wenig euphorische Reaktion. Schließlich hatte sie seit dem Ende ihrer Pubertät, seit sie also über den Tellerrand ihrer eigenen Existenz hinausschauen konnte, gehofft, dass dieser Tag einmal kommen würde. Sie war das einzige Kind, der Vater hatte sich schon kurz nach der Scheidung wieder neu liiert und sein altes Leben - inklusive der Menschen - hinter sich gelassen. Und Johanna hatte eindeutig zu viel Zeit ihres Lebens damit verbracht, sich Sorgen um ihre Mutter zu machen. Nicht, dass die zu großen Sorgen Anlass gegeben hätte. Sie war vielleicht nicht ununterbrochen zu Scherzen aufgelegt, und sie rief möglicherweise ein bisschen zu regelmäßig bei Johanna an. Aber sie hatte ihr Leben im Griff und lief nicht Gefahr, eine dieser komischen alten Frauen zu werden, deren Atem nach Katzenfutter riecht und die mit ihren Haustieren sprechen. Im Gegenteil: Johanna hatte ihre Mutter schon immer für ihre Unternehmungslust bewundert und für die Fähigkeit, langjährige Freundschaften auch mit schwierigen Menschen zu pflegen. Unter der Woche ging sie zur Arbeit und ihre Wochenenden waren gefüllt mit Aktivitäten. Trotzdem, das wusste Johanna, war ihre Mutter natürlich auch alleine. Noch mehr, seit Johanna ausgezogen war. Sie fühlte sich alleine bei großen Veranstaltungen, zu denen die Menschen ihrer Altersgruppe fast ausschließlich in Paarformation erschienen. Sie war alleine, wenn eine Alltagskatastrophe über sie hereinbrach. Und sie war bestimmt auch einfach so, an irgendeinem ganz gewöhnlichen Dienstagabend alleine und vielleicht auch: einsam.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Darüber wollte sich Johanna aber gerade gar keine Gedanken machen, weil sonst das schlechte Gewissen, das sowieso ständig in ihrem Hinterkopf vor sich hin brodelte, noch größer geworden wäre. Und während sie mit dem Verdrängen beschäftigt war, beneidete sie zum wiederholten Mal all ihre Freunde, deren Eltern den Anstand besessen hatten, verheiratet zu bleiben. Die kannten all diese Gedankengänge nicht. Nicht die Sorgen und vor allem nicht das ewige schlechte Gewissen. Sie hatten nichts weiter zu tun, als an hohen Feiertagen Zuhause zu erscheinen und ansonsten altersgerecht den Abnabelungsprozess vom Elternhaus zu perfektionieren. Warum also konnte sich Johanna nicht einfach mit ihrer Mutter freuen, die weiter aufgeregt von ihrem neuen Bekannten erzählte, der scheinbar sehr nett und interessant war und noch dazu an ihrer Mutter interessiert? Stattdessen machte sie sich jetzt schon Sorgen um das Ende dieser Beziehung, die noch nicht einmal richtig begonnen hatte. Johanna hatte mittlerweile selbst genügend Erfahrungen mit der Liebe gemacht, um zu wissen, dass der Kummer danach Schreckliches mit einem Menschen anstellen kann. Und sie hatte panische Angst davor, ihre Mutter vielleicht demnächst wieder in einem ähnlichen Zustand vorzufinden, wie nach der Trennung ihrer Eltern. Die Vorstellung, ihre hilflos vor sich hinweinende Mutter zu sehen, die sie trösten, der sie gut zureden und für die sie Suppe kochen müsste, reichte aus, dass sich ihr fast der Magen umdrehte. Sie wollte sich wirklich gerne für ihre Mutter freuen und lieber nicht an ihre Freundin Lily denken, deren "Mama hat jetzt einen Freund"-Geschichte sehr unschön endete. Lily war auch immer alleine mit ihrer Mutter gewesen und hatte sich ebenso wie Johanna durch ganze Gesteinsschichten des schlechten Gewissens kämpfen müssen bis sie sich getraut hatte auszuziehen. Kurze Zeit später hatte Lilys Mutter die frohe Botschaft verkündet, sie hätte jemanden kennen gelernt. Lilys "Jemand" hieß Peter, hatte irgendetwas mit Computern zu tun und war von da an der offizielle Freund und Begleiter ihrer Mutter. Lily fand ihn komisch, schob das aber auf seinen Beruf und hütete sich davor, ihre Mutter davon in Kenntnis zu setzen. Schließlich wünschte sie ihrer Mutter nur das Beste, sie wollte ja, dass alles gut ging, auch für sich. Vier Monate später war Peter wieder aus ihrem Leben verschwunden. Er hatte ganz plötzlich das dringende Bedürfnis verspürt, sich selbst zu finden und in diesem Prozess war offensichtlich kein Platz für Lilys Mutter vorgesehen. Einige Wochen lang erwog Lily ernsthaft, den Mann aufzusuchen und ihn entweder zur Rede zu stellen, oder ihm beide Beine mit einer Eisenstange zu brechen. Oder beides. Für ihre Freundinnen war Lily schon oft die Trösterin bei Liebeskummer gewesen, aber noch nie war es ihr so schwer gefallen, jemanden trauern zu sehen. Noch nie hatte sie sich so hilflos gefühlt. Und noch nie hatte es sie so sehr selbst getroffen. Johanna lernte ihren "Jemand" einige Wochen später bei Schnittchen und Rheinwein kennen. Dabei erfuhr sie nicht nur, dass er Martin hieß und Rechtsanwalt bei einem großen Unternehmen war, sondern auch, dass sie sich wieder ein bisschen entspannen konnte. Martin sah nicht unbedingt so aus, als würde er eine Mittfünfzigerin nach der anderen flachlegen. Er schien ein angenehmer Mensch zu sein, nicht gerade aufregend, aber interessiert an ihrer Mutter und auch liebevoll, soweit Johanna das feststellen konnte. Sie war froh, dass die beiden in ihrer Anwesenheit die Zuneigungsbekundungen auf ein Minimum reduzierten. Es war so schon eigenartig genug, ihre Mutter im Umgang mit ihm zu beobachten. Johanna fiel auf, dass die Stimme ihrer Mutter eine halbe Oktave nach oben ging, wenn sie mit ihm sprach. Und offensichtlich hatte sie auch kein Problem damit, dass Martin mitunter ziemlich autoritäre Ansichten zum Besten gab. Das war Johanna unangenehm. Sie hatte ihre Mutter immer für ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit bewundert. Und sich diese Einstellung zum Vorbild für ihre eigenen Beziehungen genommen. Und jetzt schien es auf einmal so, als ob ihre Mutter gar nichts dagegen einzuwenden hatte, ihr Leben nach einem anderen Menschen auszurichten. Als Johanna an diesem Abend mit dem Zug nach Hause fuhr, hatte sie sehr viel Zeit, über ihre Mutter, deren Martin und sich nachzudenken. Und erst als sie schon fast Zuhause angekommen war, wusste sie, was sie zu tun hatte: Ihre Mutter war ganz offensichtlich glücklich mit ihrem neuen Freund. Und Johanna wollte sich darüber freuen und endlich aufhören, sich ständig Sorgen zu machen. Aber dafür musste sie erst einmal lernen, loszulassen.

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