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"Man muss die Routine bekämpfen"

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  jetzt.de: Lennart, für die meisten Leute ist Umziehen eine Qual. Du machst das freiwillig: Warum?
  Lennart: Warum tue ich das Ganze? Weil ich nach Berlin gekommen bin und wusste, dass ich sehr viel arbeiten und eine Fernbeziehung führen werde. Die beiden Sachen haben mich ahnen lassen, dass ich nicht viel von Berlin mitbekommen werde, wenn ich mich nicht ein bisschen dazu zwinge und mich quäle. Ich wollte nicht nur die Kastanienallee sehen. Es ging mir darum, ganz unterschiedliche Kieze zu sehen.
 
  Muss man denn in einem Viertel wohnen, um es wirklich kennenzulernen?
  Nein, muss man nicht. Aber das schien mir die schnellste Methode zu sein, um in kurzer Zeit möglichst viel kennenzulernen. Die hippen Bezirke lernt man auch so ganz gut kennen, weil man sich dort sowieso öfter mit Leuten trifft. Aber ich wäre normalerweise nie auf die Idee gekommen zu sagen: Ich hock’ mich jetzt in die Bahn und schau mal, was abends am Stuttgarter Platz in Charlottenburg abgeht. Ich bin deshalb bewusst nicht nur in die hippen Bezirke gezogen. Ich war auch in Charlottenburg, in Schöneberg, im Süden von Pankow und im südlichen Neukölln. Ich wollte mich mit diesen Vierteln auseinandersetzen müssen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Lennarts Wohnungs-Stationen in Berlin
 
  Hast du dort schöne Orte gefunden? Oder ist es begründet, dass diese Viertel nicht so angesagt sind wie andere?
  Ich habe immer wieder was gefunden. Zum Beispiel habe ich in Charlottenburg ein Kino entdeckt. Das heißt „Die Kurbel“, ein Fünfziger- oder Sechzigerjahre-Kino, in dem alles so belassen wurde, wie es damals war. Und ich habe eigentlich überall etwas gefunden, was ich noch nicht kannte, von dem ich noch nichts gehört hatte, das mir aber gut gefallen hat.
  
  Haben deine Freunde dich denn im tiefen Westen von Charlottenburg besucht?
  Die Coolness der Bezirke hat schon mit der Anzahl der Besuche korreliert, die ich bekommen habe. Bis ins unterste Neukölln ist niemand gekommen. Als ich in Pankow war, ist manchmal ein Kumpel gekommen, der in Prenzlauer Berg gewohnt hat – was allerdings auch nicht so weit ist. Als ich in Kreuzberg gewohnt habe, kamen die Leute, weil sie dort am Wochenende eh unterwegs waren.
 
  Wie lange dauert es, bis man sich in einem Viertel auskennt?
  Genau kann ich das nicht sagen. Aber ich war überrascht, dass ich mich meistens extrem schnell heimisch gefühlt habe.
    
  Gab es Momente, an denen du das festmachen kannst?
  Irgendwann stellen sich gewisse Automatismen ein und man fängt an, nichts mehr wahrzunehmen. Man schaut nicht mehr interessiert in jedes Schaufenster und ist nicht mehr gespannt, was in der nächsten Straße auf einen wartet. Alles ist schon irgendwie bekannt, man schaut beim Laufen nicht mehr auf, sondern trottet nur noch vor sich hin. Aber diese Routine kann man bekämpfen. Nicht immer den kürzesten Weg zur S-Bahn laufen, sondern Umwege gehen. Oder den Bus nehmen, der ein bisschen weiter weg hält.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


 
  Was sind die Indikatoren, an denen sich die Unterschiede zwischen einzelnen Vierteln festmachen lassen? Die Preise?
  Ich gebe dir ein Beispiel, das man vielleicht die Club-Mate-Messlatte nennen könnte. Mir ist aufgefallen, dass die Anzahl von Club-Mate-Flaschen in den Kühlschränken der Spätkaufläden ein deutlicher Gradmesser für den Zustand eines Viertels ist. Auch die süddeutschen Biere wie Tegernseer, Tannenzäpfle und Augustiner gibt es vor allem da, wo die Hipster rumlaufen. Im südlichen Neukölln tut man sich schon schwer, Club Mate und diese Biere zu finden. Da standen dann nur Sternburg und billige Biere in den Kühlschränken.
 
  Was sind denn die Faktoren, die ein Viertel für dich lebenswert machen?
  Der Zeitpunkt ist wichtig. Ich glaube, es ist langweilig, wenn man in einem der Stadtteile ist, die angeblich im Kommen sind, es de facto aber doch nicht sind. Oder umgekehrt: Wenn die Entwicklung schon so weit fortgeschritten ist, dass das Viertel die wirklich spannende Zeit hinter sich hat und es ins Touristische umkippt. 
 
  Nach all den Umzügen bist du wahrscheinlich auch ein Experte für WG-Castings, oder?
  Ich hatte in den vergangenen elf Monaten ungefähr 15 Vorstellungstermine in Wohngemeinschaften und habe davon sechs oder sieben Absagen bekommen. 
 
  Was eine ganz gute Quote ist.
  Das lag glaube ich daran, dass ich nie wirklich auf eine Wohnung angewiesen war, weil ich jederzeit auch in eine andere Ecke oder eine andere Wohnung gezogen wäre. Die Chancen, in eine WG zu kommen, nimmt man sich glaube ich am meisten, wenn man zu penetrant ist. Wenn man es zu sehr will. Bei den Absagen habe ich meistens schon nach den Vorstellungsterminen gedacht, dass es nichts wird.
 
  Warum?
  Weil die Menschen wenige Fragen gestellt haben, beziehungsweise belanglose Höflichkeitsfragen – ob ich mit dem Rad gekommen bin oder so. Es wirkte, als hätten sie sich schon entschieden und wollten eigentlich gar nicht wirklich etwas über mich wissen. Normalerweise waren die Menschen eher misstrauisch und haben viele Fragen gestellt – über Beruf, Feiergewohnheiten und Drogenkonsum. Wahrscheinlich waren sie so neugierig, weil sie ihre Zimmer voll möbliert und mit all ihren Sachen vermietet haben.
  
  Sie haben dich quasi in ihre Privatsphäre gelassen.
  Ja. Ursprünglich ging es mir gar nicht um die Wohnungen, noch nicht mal wirklich um die Leute, bei denen ich wohnen würde. Aber es wurde nach und nach immer interessanter, in relativ kurzer Zeit in die Privatsphäre anderer Menschen einzutauchen. Manche haben mich auch ermuntert: „Hier sind meine Bücher und CDs, bedien’ dich!“ Und dann hatte ich plötzlich Bücher mit Widmungen in der Hand oder mit einem halben Liebesbrief. 
 
  War bei den acht WGs kein Reinfall dabei?
  Es gab schon seltsame Episoden. Einmal hatte ich einen alten Schwaben als Mitbewohner, der viele Verhaltensregeln in der WG mit Feng Shui begründet hat. Der Toilettendeckel musste geschlossen werden, weil sonst das gute Karma in den Gulli entweicht.
 
  Hast du noch Kontakt zu Gastgebern?
  Eine Zweier-Jungs-WG würde ich heute auf jeden Fall zu meinen Kumpels zählen. In einem anderen Fall habe ich mich mit meinem Mitbewohner sehr gut verstanden. Wir haben gegrillt, getrunken, uns gut unterhalten – und im zweiten Monat ist seine Freundin noch bei ihm eingezogen. Die war auch etwas penibel, und aus der Männer-Kumpelschaft des ersten Monats wurde ein etwas angekratztes Verhältnis. 
 
  Wie lange wird dein Nomadentum noch andauern?
  Ich bin jetzt bei einem guten Freund gelandet, und es könnte sein, dass ich hier jetzt erstmal eine Weile bleibe. Meine letzte Station war ja Neukölln, und das war tatsächlich eine etwas fiese Gegend. Ich habe in der Wohnung dort den Schlüssel für die Haustür verloren. Die Vermieterin hat mir keinen neuen gegeben, statt dessen hat sie mir gesagt, ich solle mich einfach kräftig gegen die Haustür werfen, um rein zu kommen. Ich habe also einen Monat lang jeden Abend so Tatort-SEK-mäßig die Tür aufgerammt, und kein einziges Mal hat sich jemand gewundert oder beschwert – noch nicht mal ein älterer Mann, der das von innen mitbekommen hat. Dem flog die Tür fast ins Gesicht, aber alles, was er sagte, war: „N’Abend.“




Text: christian-helten - Illustration: Katharina Bitzl

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