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Mit Scheiße Geld verdienen: Das Sido-Porträt

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Aus den eingebauten Lautsprechern des weißen MacBook kommt eine piepsig-kratzige Männerstimme. Rastlos, Wort an Wort, erzählt sie die Geschichte von einem New Yorker Unterschichten-Jungen, der ein Mädchen aus Manhattan kennenlernt. Sie verlieben sich ineinander. Dann wird das Mädchen erschossen. Fünf Minuten Ghettotragödie. „Hammer. Das ist ‚Renee’ von den Lost Boyz. Mein Lieblingslied, weißt du?“ Der Junge vor dem Rechner trägt eine randlose Brille, er nickt im Takt. Der Beat ist eingängig: monotones Glockenspiel auf Drums. Ob er auch eine Freundin hatte, die erschossen wurde? Der 27-Jährige kratzt sich am Bauch und schnalzt verächtlich. „Quatsch Mann, aber Renee muss ja nicht unbedingt eine Frau sein. Renee ist etwas, das man als Junge aus der Platte normalerweise nicht bekommt – und wenn man es dann plötzlich hat, wird es einem ganz schnell wieder weggenommen.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Paul Würdig weiß, wovon er spricht: Früher lebte er in einer dieser häßlichen Plattenbausiedlungen, die Berlins bürgerlichen Kern umklammern wie ein angebrannter Speckmantel das saftige Rindermedaillon. Wer aus Hamburg-Blankenese oder München-Grünwald kommt, kennt meistens keinen aus der Platte. Und umgekehrt. Trotzdem – oder gerade deswegen – schaffte Paul es unter dem Namen Sido im Jahr 2004 auf Platz 13 der deutschen Charts. Das Video zur Single „Mein Block“, in dem der damals noch auffallend magere Rapper den Zuschauer durch die einheitsgrauen Hochhausschluchten seines Wohnblocks führt, lief auf den Musiksendern MTV und VIVA wochenlang auf Heavy Rotation. Sidos gerappte Hommage an seine Gegend, an das Märkische Viertel im Berliner Bezirk Reinickendorf, ließ ihn wie ein Hochhauslift in kurzer Zeit von ganz unten nach ganz oben schnellen. Yeah, gutes Essen „Ganz oben“ heißt heute Nachmittag in einen Konferenzraum im siebten Stock des Berliner Haupthauses der Universal Music Group. Gegenüber der neugebauten O2World-Arena an der Stralauer Allee sitzt das erfolgreichste der vier großen Major-Labels in einem roten Backsteingebäude direkt an der Spree. Universal ist die Plattenfirma mit dem weltweit größten Marktanteil am Musikgeschäft. Zum so genannten Urban Department, der Abteilung für Black-Music-Künstler, gehören internationale Superstars wie Snoop Dogg, die Black Eyed Peas, Busta Rhymes, Prince und Rihanna. Und seit Sidos Label Aggro Berlin mit Universal eine Kooperation eingegangen ist, auch er: Paul Würdig aus dem Märkischen Viertel. Sido sitzt auf einem blauen Bürostuhl aus Holz und dreht sich hin und her. Die Wände sind mit roten Gardinen verdeckt. Erhellt wird das fensterlose Zimmer bloß durch die lange Wand aus Glasbausteinen, die diffuses Licht aus dem Nachbarraum hereinfallen läßt. Immerzu huschen Silhouetten auf der anderen Seite der Wand vorbei. Das Parkett knarzt. Doch will man sich beschweren? In der Platte gab es nur Linoleum und Teppich. Auf dem riesigen Tisch vor dem Rapper stehen unzählige Getränke in Flaschen: San Pellegrino, Coke Zero, Apfel- und Orangensaft. Durstig muss hier niemand bleiben. Daneben ein übergroßer Obstkorb mit Bananen, Kiwis und unnatürlich grünen Äpfeln. Doch Sidos Hauptaugenmerk liegt auf dem Teller unter seiner Nase: Currywurst mit Pommes. Er inhaliert den heißen Essensgeruch und zermatscht dann mit viel Körperkraft Würstchen, Pommes und Ketchup. Dabei stampft er mit seiner Gabel solange auf dem Teller herum, bis aus den drei Zutaten ein dicker, orangefarbener Brei geworden ist. Ein Messer braucht er nicht. Stattdessen hält er die Gabel links und schiebt sie immer wieder schwungvoll unter den Currymatsch, um das Essen dann in den Mund zu schaufeln. Je mehr er isst, desto tiefer hängt sein Kopf über dem Teller. „Yeah, gutes Essen“, kommentiert er und haut sich auf die kleine Wampe, die sich unter seinem T-Shirt abzeichnet. Gutes Essen hatte Sido nicht immer. Als er noch Paul Würdig war, hatte er gar keins. Paul wuchs gemeinsam mit seiner Schwester bei der alleinerziehenden Mutter im Märkischen Viertel auf. Seinen Vater kennt Paul nicht. Er geht mit der Durchschnittsnote 4,7 von der Realschule ab und lebt auf der Straße, bevor er sich mit seinem Freund Bobby, der sich heute B-Tight nennt und ebenfalls hauptberuflich rappt, eine Wohnung im Wedding teilt, die immer kalt ist und deren Klo im Treppenhaus liegt . Ihr Alltag besteht aus „schlafen, essen, rauchen, wichsen“ – und Musik. Auf der nächsten Seite: Wie aus Paul und Bobby Rüpelrapper wurden. Und welche Rolle ein türkischer Geschäftsmann dabei spielt.


Zum Spaß nehmen Paul und Bobby Mixtapes auf und verteilen sie an alle Freunde im Block. Drei Jungs aus Schöneberg – der türkische Geschäftsmann Halil, Graffitisprüher Specter und Breakdancer Spaiche – werden auf Paul und Bobby aufmerksam, nehmen die beiden unter Vertrag und nennen das Label Aggro Berlin. Sido setzt sich eine silberfarbene Maske auf und rappt provozierende Texte zu simplen Beats. „Wir haben damals aus Scheiße Gold gemacht“, sagt er heute siegesbewusst, „und uns trotzdem geschworen, immer so zu bleiben, wie wir sind.“ Anfangs war Sidos Künstlername ein Akronym für ‚Scheiße in dein Ohr‘. „Aber das fand ich irgendwann ein bisschen behindert und habe mir etwas Neues überlegt. Und da hat einfach nichts besser gepasst als ,superintelligentes Drogenopfer‘.“ Pädagogischer Rüpelrapper Auf „Mein Block“ folgten das genauso erfolgreiche Debütalbum „Maske“, mehrere Tourneen, eine Biografie, das zweite Soloalbum „Ich“, mit dem Sido überraschenderweise renommierte Feuilletons erreicht, sowie das aktuelle Werk: „Ich & meine Maske“. Die Inhalte von Sidos Musik sind immer provokativ, gefüllt mit Wörtern, die ihm schnell den Stempel „Unterschichtenmusik“ auf die Stirn setzten. Doch hier werden nicht nur die Kids aus den Trabantenstädten angesprochen, sondern vor allem Kinder gutsituierter Eltern. Entweder es heißt: Das erlebe ich doch auch jeden Tag. Oder: Wäre ich so aufgewachsen wie Sido, wäre ich geworden wie er. Mit Scheiße, die dann Gold wurde, hat Sido sich selbst in die Öffentlichkeit katapultiert. Und mit der markanten silberfarbenen Maske, halb Mikrofon, halb Totenkopf. Heute trägt Sido keine Maske mehr. „Die hat Specter mir damals gemacht, damit mich niemand erkennt.“ Klingt unglaubwürdig, schließlich haben sie und ihr Silberglanz genau das Gegenteil bewirkt. Doch dahinter glänzt nicht viel, nur ein wenig Talg auf der gebräunten Haut. Mit seiner randlosen Brille sieht der Rapper aus wie aus einer Fielmann-Werbung. Passend zur ersten Singleauskopplung von seinem aktuellen Album „Ich & meine Maske“. In „Augen auf“ plädiert Sido, unterstützt von einem Kinderchor, an die Eltern und verlangt: Passt auf eure Kinder auf! Ein guter Song für den TV-Sender Pro7, um zu rechtfertigen, wieso der Rüpelrapper plötzlich zum Juror und Aushängeschild der derzeitigen „Popstars“-Staffel „Just 4 Girls“ berufen wird. Der erste Zehnsekünder, der für die neue Staffel des Casting-Klassikers wirbt, zeigt ein braunhaariges Mädchen mit Heidi-Klum-Pony. Trotz miserablem Gesang und sichtbarer Aufgeregtheit darf sie noch etwas los werden: „Sido, du bist mein größter Fan.“ Der Berliner fragt hämisch: „Ach ja? Ich bin dein größter Fan? Oder bist du eher mein größter Fan?“ Sido ist in der Sendung fast so oft zu sehen, wie das Pro7-Logo oben rechts. Und das, obwohl er im Vergleich zu den anderen Juroren Detlef „D!“ Soost und Sängerin Loona gar keine richtigen Aufgaben hat. D! macht die Mädels quotenschlank, mit Loona sollen die Star-Anwärterinnen singen lernen. Und Sido? „Studio zeigen und so“, erklärt er seine Aufgabe bei „Popstars“. Was soll er auch anderes machen – vielleicht den Mädchen das Rappen beibringen? Nein. Bloß präsent sein. Loonas Semi-Prominenz reicht nicht aus und Detlef Soosts simple Art polarisiert zu sehr, um Zuschauer zu gewinnen. Also rennt Sido mit den „Popstars“ durch die Wüste und reitet auf Kamelen, eingewickelt in eine Toga. Nicht mal ein Drittel Entscheidungskraft habe er, wenn es darum geht, wer rausfliegt. Nicht, dass die anderen beiden mehr zu sagen hätten. „Ich will nicht behaupten, dass uns vorgeschrieben wird, wen wir weiterlassen sollen und wen nicht, aber die Produktionsfirma nimmt schon sehr viel Einfluss.“ Achso? „Bei Popstars ist alles fake. Alles! Ich mache das, weil es mich amüsiert – und ich für den Spaß auch noch Kohle kriege.“ Loona ist Atze Wenn die Kamera aus ist, wird er seinem eigentlichen Image wieder gerecht und randaliert. Gemeinsam mit Loona hat er im Suff eine Hoteltür eingetreten, um einen Mitarbeiter zu wecken. „Wir wollten halt Party machen.“ Mit der Sängerin versteht er sich gut: „Loona ist Atze.“ D! sei sehr professionell, zwar nett, aber er mache alles aus Berechnung und sei immer auf Emotionen aus. „Er drückt die Knöpfe bei den Mädchen ganz bewusst. Der weiß schon, wann die heulen. Und je mehr sie heulen, desto geiler ist es.“ Allerdings wüssten die Mädels auch sehr gut, wie sie sich vor der Kamera darstellen müssen, um interessant zu wirken. Privat hat Sido mit den Kandidatinnen wenig zu tun. „Bloß mit meinen Favoritinnen. Mit denen rede ich auch über Probleme und sowas.“ Das sei wichtig, aber der Grenzstreifen zwischen Juror und Kandidatinnen ist nach Drehschluss sehr breit. Von den meisten der letzten 13 Mädchen wüsste er den Namen nicht mal. „Doch das macht ja die Sendung nicht schlechter.“ Im Konferenzraum in der siebten Etage riecht es nach Leichtigkeit. Sido kifft. Die knopfrunden Augen werden klein. Schwarz wie Öl sind sie noch immer. Das Beste am Ruhm? „Die Kohle.“ Das Schlechteste? „Dass irgendwelche Spasten einen auf der Straße anlabern.“ Dieselben Spasten, die seine Musik kaufen. „Ist mir egal, wer meine Musik kauft. Ich mache das nicht für irgendwen, sondern für mich. Damit ich leben kann, Essen habe, coole Klamotten trage.“ Mit dieser Einstellung kann er auch seine Teilnahme an „Popstars“ rechtfertigen. Wobei: „Popstars“ müsse er gar nicht rechtfertigen. Für den, der das machen will, was andere nicht von einem erwarten, ist „Popstars schon okay.“ Aber für alle Zeit zur Popstars-Grundausstattung gehören wolle er auch nicht. Andere Projekte sind geplant, zum Beispiel eine Punkband. Und ein Filmprojekt in Zusammenarbeit mit Oliver Berben, dem Sohn von Iris Berben, der als Produzent des Films „Elementarteilchen“ bekannt wurde. Der Plot von Sidos Film: Ein Junge aus dem Ghetto wird erfolgreich durch Musik. Naheliegend, aber nicht neu. Und vor allem genau das, was die Leute von Sido erwarten. Sido tippt auf dem Trackpad seines MacBook rum. „Renee“, die Geschichte vom armen Jungen und der toten Freundin, läuft auf Repeat. Hört Sido eigentlich seine eigene Musik? Wieder schnalzt der Rapper verächtlich. „Quatsch Mann. Tun doch schon genug andere.“ Das reicht.

Text: julia-finger - Illustration: Katharina Bitzl

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