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München ist rund: Zu Fuß auf dem Mittleren Ring

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Die Sonne scheint schüchtern in den Morgen eines der letzten kalten Märztage. Am Ring nahe dem U-Bahn-Halt Milbertshofen wirbt ein Dönerstand mit dem Schriftzug „Wenn sie nichts essen, müssen wir beide verhungern“. Der Verkäufer schneidet Zwiebeln für die Fladen, hier beginnt und endet meine Wanderung den Ring entlang, 28 Kilometer Fußweg im Uhrzeigersinn. Der Wind aus dem Osten beizt das Gesicht, aber ich gehe sorglos, zunächst, weil der Fußweg immer wieder von der Straße weg führt, sogar durch einen Park und über den Biedersteintunnel. An seiner Oberfläche liegen verlassene Schlafsäcke, sauber gefaltet. Aus dem Rost dringt warme Luft. Warum der Mittlere Ring? Auf Höhe Effnerplatz steht das „Rumänienhaus“ und wie wäre es, ein Gedanke aus der Wanderlaune, durch Rumänien zu wandern? Im Rumänienhaus läuft Folklore und ich frage: „Haben Sie auch Wanderführer?“ Der Mann am Empfang bittet um Englisch und ihm fällt sein helfendes Lächeln aus dem Gesicht. „Tourism?“ Er bittet um „two Seconds“. Dann: „Maybe you find something in here?“ Das Magazin „Ost-West Contact“ entbietet den potentiellen deutschen Investoren Grüße („Kommen Sie, dieses Land braucht Sie“) und wirbt mit dem größten zusammenhängenden Wald Europas und den Karpaten, in denen Luchse, Bären und Wölfe ihre Wege gehen. Warum Rumänien? Zwei Kreuzungen später sieht der Reiseverkehrskaufmann im Reisebüro Delphin jede Provision schwinden, als sein Kunde von Rumänien spricht. Herr Delphin blickt mutlos durch sein Schaufenster auf den Mittleren Ring und sieht Wölfe und Bären, die auf der Wildbahn beschleunigen. Er geht zum Regal, zieht einen Katalog vor und lässt ihn auf den Tisch klatschen. Bulgarien und Rumänien in einem Heft. Bulgarien 90 Seiten, Sonne und Meer. Rumänien zehn Seiten, Dracula und Wölfe. Der Weg führt jetzt direkt die Straße entlang. Zum ersten Mal nehme ich die Kopfhörer zum MP3-Player aus den Ohren. Das Rauschen der Autos schmirgelt am Trommelfell. Vor einem Riegel von Haus im Osten von München pfeifen zwei Jungs und rufen „hey“. Sie pfeifen die Fenster an und warten, dass sich eines öffnet. Genau genommen stehen sie vor dem Haus wie auf einer Bühne und pfeifen dem Publikum, den 50 Fenstern. Die aber bleiben stumm und wir gehen aus dem Theatersaal, weiter, hinein in die Aribonenstraße, die vom Mittleren Ring wie ein Stachel in den Stadtteil Ramersdorf ragt. Vorn erhebt sich eine Kirche, dahinter der nach eigenen Angaben „älteste Biergarten der Welt“ mit Ente zu 3,99 Euro und nur ein paar Schritte entfernt liegt Bayerns ältestes Fachgeschäft für alte Postkarten. In der Tür hängt hinter Glas das Konterfei von Franz-Josef Strauß, weiter unten ein Briefkuvert, adressiert an Slobodan Milosevic.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

„Guten Tag, ich laufe heute den Mittleren Ring entlang und – haben Sie Ansichtskarten von Rumänien?“ Daniel Bonk gibt mir eine Kiste hin und ich stöbere hinter der Rubrik Rumänien. Gemalte Ansichten mächtiger Architektur und Fotos von Landleben. Ein Bauer spielt für zwei Bäuerinnen auf der Flöte, er trägt einen weißen Rauschbart und die Bäuerinnen blicken versonnen. Ein Laden der Entschleunigung. Norbert Haidl hat dafür 1979 seine Stelle bei der Regierung von Oberbayern aufgegeben und reist stattdessen bis nach Amerika zu den Sammlerbörsen um seine Kartons zu bestücken. Haidl nimmt seinen Reisepaß aus der Schublade und dann einen zweiten. Er zählt die Stempel, die seine Reisen in die USA belegen, vier Mal, sechs Mal im Jahr. Die Menschen, die hier stöbern, sammeln manchmal nur Schildkrötenansichten oder Karten der Nordseeinsel Spiekeroog. „Meine Mutter kommt von dort“, sagt Bonk. Gibt es so viele Karten von nur einer Insel? „Oh, natürlich. Früher, da hatte jeder Kiosk seine eigenen Karten.“ Kann man sie irgendwann komplett haben? „Oh, nein.“ Er schüttelt den Kopf, er besitzt 500 Stück. Bonk, Haidl und Hunderte ihrer Stammkunden frönen einer Leidenschaft, die kein Ende verspricht, kein Ziel. Aber sie verspricht Entdeckungen. Der graue Himmel drückt den Winter noch mal tief in den Tag und ein Blick in die Karte fordert Beschleunigung. Sechs Stunden und nicht mal die Hälfte des Rings erlaufen. Die Kopfhörer schaffen es nicht mehr, das Geräusch der vorbeiwischenden Fahrzeuge aus den Ohren zu drängen. Mir fällt auf, dass die Konzentration des Morgens den Lärm filterte, dass der Spaß am Aufbrechen die Straße aus der Wahrnehmung radiert hatte. Ich blicke in meine Tasche, in der meine rumänische Ansichtskarte und eine Autogrammkarte von Lieselotte Pulver stecken. Was suche ich? An der Chiemgaustraße hebe ich eine Buchseite vom Gehweg auf: „Worum geht es?“ fragte Charlotte. „Um ausgestopfte Tiere auf Kleidern und Hüten“, antwortete Fanny. „Erinnern Sie sich nicht, vor zwei Jahren war es der letzte Schrei. Die Kusine meiner Mutter hatte einen Hut mit Blumen, Käfern und Spinnen drauf.“ „Sie ziehen uns auf!“ sagte Fitz mit großen Augen. „Keineswegs! Und ich habe eine Freundin, deren Tante ein Kleid hatte, das mit ausgestopften Mäusen besetzt war.“ Der Glockenturm der Philippus-Kirche steht wie eine Kerze in den Himmel am Ring. In einer der Bänke lege ich meine Stirn auf meine Hände, die ich auf die Lehne der Vorderbank gelegt habe. Die Ruhe streichelt den Kopf. Ich blicke auf, stehe auf, gehe zum Altar und lese in der offenen Bibel. Psalm 23, der Herr ist mein Hirte, er führet mich zum frischen Wasser. Es ist leichter, den Autos entgegen zu laufen. Ich kann ihnen in die Augen blicken, sozusagen, so nähern sie sich nicht von hinten und reißen im Vorbeifahren den letzten Rest Ausgeglichenheit aus dem Gemüt. Am Ring reihen sich Sonnenstudios, Friseursalons, Waschsalons und immer wieder das Plakat der schwarzhaarigen Frau, die mit erhobener Brust und geöffneten Beinen für Unterwäsche wirbt. Ich klettere auf den Hügel an der Brudermühlbrücke und sehe im Norden, auf der anderen Seite der Stadt die zwei neuen Bürotürme. Ich schüttle den Kopf und sage mir „Was soll das alles“, ohne Fragezeichen, als Aussagesatz. Aus dieser Wanderung wird gerade eine Flucht, auf der ich immer schneller marschiere, weil mir sonst die Fersen schmerzen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Im Westen, auf der Höhe Hinterbärenbadstraße liegen schlussendlich Bleiwesten auf meinem Gemüt und nur der Döner am Ziel scheint noch erstrebenswert. In einer Stichstraße sehe ich ein Eiscafé. Vier Menschen Personal, sonst niemand und ich. Das ist eine schlechte Konstellation, Fußballfreunde wissen es. Der jüngere der beiden Männer deutet auf das Eis, ich sage „Cappucchino“, die Frau neben ihm übersetzt seinem fragenden Gesicht zuliebe und sagt „Cappucchino“. Der Ältere sitzt am Tisch und schreibt Preise unter Bilder von üppigen Eisbechern, die zweite Frau klebt Bilder auf die Speisekarten. Die Ramazotti-CD hört auf zu singen. Die erste Frau und der junge Mann blicken mich an, ich kann über die Theke ihre Augen sehen, immer wenn ich aufblicke wenden sie sich ab. Es ist still. Manchmal sehne ich mich nach mehr Nähe zum Gefühl, dann könnte ich jetzt heulen, weil mich nach acht Stunden Gehen so etwas wie sonnige Sinnlosigkeit befällt, Welt- und Fußschmerzen. Das sind die Momente, die einem sagen: Nach was Du im Leben auch strebst, es wird alles nutzlos bleiben. „Musica“ murmelt der Alte Richtung Theke. Der Jüngere nimmt seine Arme aus der Verschränkung und tippt auf den CD-Spieler. Ich gehe. Im Westen gräbt sich ein Abendrot in den Himmel, das den Frühling ahnen lässt. Ich spüre auf der Donnersberger Brücke zum ersten Mal die Nähe von Menschen, die in der Feierabendzeit zu ihren Zügen gehen und drücke mein Kreuz durch, verliebe mich im Vorbeigehen in ein Mädchen, gehe schneller. Giorgio Gazzaruso sitzt im Schaufenster seines Lädchens und näht. Ich trete ein und erzähle von meinem Ringrundgang und weiß nicht, was ich fragen soll. Er näht, blickt selten auf und schenkt meiner Tagesaufgabe ein Lächeln. Im April sind es 15 Jahre, dass er hier näht, der Herrenschneider aus Süditalien. Er arbeitete in Deutschland in einer Nähmaschinenfabrik, wurde dann Änderungsschneider, machte sich „selbeständig“ an der „Landeshuter Allee“. Gazzaruso spricht wie ein Deutscher, der Italiener imitieren will. „Änderungsscheneider!“, wiederholt er. Es soll heißen: So war das nicht gedacht, aber es ist so gekommen. Nach zehn Stunden steckt noch Fleisch auf dem Spieß im Dönerstand nahe der U-Bahn-Station Milbertshofen, ich habe aber keinen Hunger mehr. Der Döner war die Hilfe, nicht das Ziel und mir fällt ein: Vielleicht sind Ziele nichts anderes als Krückstöcke, die beim Gehen durch Ödland helfen. Vielleicht ist das Leben sowieso ein Rundgang, dessen Sinn man nicht erst als einen Haufen am Ende entdeckt sondern verstreut. Auf dem Weg. Fotos: Peter Wagner

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