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„Nicht einmal die Träume gehören dir noch“: Das Tagebuch der Helga Deen

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Als der holländische Künstler Kees van den Berg stirbt, entdeckt sein Sohn Conrad im Atelier des Vaters eine braune Damenhandtasche. Darin befinden sich Briefe, Postkarten, eine Haarlocke sowie ein Füllfederhalter – und ein gebrauchtes Schreibheft. Auf dem grau-grünen Umschlag steht die Aufschrift „Chemie H. Deen“. Der Inhalt der Handtasche erweist sich als Sensation: Das Schulheft, das Kees van den Berg jahrzehntelang aufbewahrt hatte, enthält das Tagebuch seiner großen Jugendliebe – Helga Deen, 18 Jahre alt, 1943 von den Nazis im Vernichtungslager Sobibór ermordet. Die Schülerin aus Tilburg war am 1. Juni 1943 in das Konzentrationslager Vught gebracht worden. Dort gelingt es ihr, einen Monat lang ihre Gedanken und Erlebnisse im Lager festzuhalten. Eindrücklich beschreibt Helga Deen ihre Gefühle von Ohnmacht, Verzweiflung, des Kampfes und der Sehnsucht – für ihren Freund Kees. Der letzte Eintrag datiert vom 1. Juli 1943. Einen Tag später wird Helga Deen in das Durchgangslager Westerbork und von dort nach Sobibór deportiert, wo sie am 16. Juli ermordet wird. Freunde hatten es zuvor geschafft, ihr Tagebuch aus dem Lager Vught zu schmuggeln. Die Entdeckung des Tagebuchs im Herbst 2004 erregte großes Aufsehen; Helge Deen wurde als „zweite Anne Frank“ bezeichnet. Am Dienstag erscheinen ihre Aufzeichnungen und Briefe aus dem Lager in Holland als Buch. jetzt.de druckt hier exklusiv Auszüge aus dem Tagebuch der Helga Deen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

2. Juni. Nachher werden wir entlaust. Wir sitzen noch immer in derselben Baracke und dürfen nicht raus. Ach, draußen ist es so schön, so schön. Heute Nacht habe ich dann doch ganz oben geschlafen. Eine gewaltige Kletterpartie, dafür angenehm und luftig. Wunderbar geschlafen. Um 4 Uhr war ich wach. Hinter dunklen Bäumen riesige blaugraue Wolkengetüme, darüber meergrünes Seegras, in dem still und stark ein Stern glänzte. Da musste ich an gestern Nacht denken, als wir so friedlich und glücklich nebeneinanderlagen und zum Himmel sahen, und an vorgestern Nacht, als du dich, wach geworden, über mich gebeugt und etwas sehr Liebes gesagt hast. Es kam mir vor wie eine zärtliche Berührung, aber ist wohl nicht ganz bei mir angekommen, weil ich immer noch schlaftrunken in deinen Armen lag. Gerade habe ich deine Briefe gelesen, deine lieben Briefe, die mich dir in den Augenblicken der Leere so nah werden sein lassen. Freitag, 4. Juni. Mein Gott, was sind das hier für fürchterliche Zustände. Es gibt so viel zu schreiben, es passiert so viel, dass ich die Hälfte vergesse. Du, nachher weiter, ich muss sehen, dass ich mir Arbeit besorge. 6. Juni. Ein Transport. Das ist zu viel. Ich bin am Boden, und morgen schon wieder. Aber ich will, will, denn wenn mein Glück und Wille stirbt, sterbe ich auch. Das vergisst man nie mehr. 12. Juni. Ich fühle mich todunglücklich. Die ganze Zeit bin ich froh und mutig gewesen, obwohl schreckliche, üble Sachen passiert sind, so viel, dass man es gar nicht aufschreiben kann. Wir kriegen viel zu wenig Schlaf und ich bin so entsetzlich müde und manchmal staut sich dann alles auf. (...) Tag für Tag sehen wir die Freiheit hinter Stacheldraht. Es gibt auch einen Pfad, der mit Sträuchern und Birken gesäumt ist, und ganz in der Ferne, wo er endet, ein Kornfeld. Ich wünsche mir oft, dass du das findest und ich dich am Abend sehen würde. (...) Gott, jetzt fühle ich mich wieder besser, wo ich ein bisschen geschrieben habe, und meine gute Laune kehrt zurück. Ich muss das wirklich öfter tun. Denkst du heute trotzdem mehr als sonst an mich? Pfingsten 13. Juni – 1943 Heute Pfingsten. Ich bin mit einem Sonntagsgefühl wach geworden. Wir mussten erst um 8 Uhr zum Appell antreten. Die Sonne hat mich wach gekitzelt, und jetzt sitze ich draußen auf der Böschung, nachdem ich vorher im Krankenhaus noch kurz die Böden gewischt habe. Greet und ich haben im Testament etwas über das Pfingstfest gelesen. (...) Ach, dass immer ein Zweifel in mir bleibt. Und ich bin so eitel. Das ist wahrscheinlich mein größter Fehler, den ich auch erst in den letzten Monaten entdeckt habe. Es kostet mich sehr große Mühe, darüber zu schreiben, auch weil ich eitel bin und so gerne vollkommen wäre. Aber das ist niemand. Ich fürchte mich manchmal vor mir selbst, ich fürchte, dass ich immer das Gute will und das nur aus Eitelkeit. Um von mir selbst sagen zu können, was warst du wieder gut. Manchmal will ich es aber auch wirklich, vielleicht sogar immer. Ich weiß nicht, ich werde einfach nicht klug aus mir. Vielleicht wird dich dieses Tagebuch ja enttäuschen, weil du auf Fakten hoffst, aber sie nicht findest. Vielleicht bist du aber auch froh, dass du hier nur mich findest, Kampf, Zweifel, Verzweiflung, Verlangen und Leere. Und wenn es wirklich ein Tagebuch ist, etwas von meinem Denken und Fühlen, ist das ja auch viel wichtiger.


Dienstag, 15. Juni 1943 Heute 2 Wochen. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, und wie lange noch. Heute war M. hier und hätte etwas mitnehmen sollen. Er hat es nicht getan. Gott, ich sehe einfach keinen Anfang und kein Ende, als ob ich ewig hierbleiben müsste. Heute ist alles düster und schwarz, kein einziger Lichtblick. Vorhin habe ich geweint, jetzt schreibe ich, das erleichtert mich immer und gibt mir wieder Vertrauen. Appell, gleich geht’s weiter. (...) Es geht hier ein Gerücht, dass Sonntag wieder ein Transport abgeht. Das Leben ist nur noch ein einziges Elend, nicht einmal die Träume gehören dir noch, da spukt das Elend in seiner tiefsten Schwärze in dir herum. Erschreckend, verwirrend, schreiend, spukhaft. Oder du träumst vom Essen, lauter leckeren Sachen. Heute morgen hielten sie mir im Traum lauter Brote mit allen möglichen Marmeladensorten vor die Nase, unerreichbar, und dabei habe ich noch nicht einmal echten Hunger. Die dauernde Anspannung und alles zerrt sehr an den Nerven, und wer nicht absolut will, geht kaputt. Aber ich will, will, und darum halte ich schon durch. Samstag, 19. Juni. Und heute Mittag kam dein Brief. Ich (...) achtete nicht auf die Post, weil noch nie etwas für mich dabei war. Da hörte ich meinen Namen, ein Frösteln erfasste mich, sah den Absender. Ich glaube, ich bin abwechselnd blass und rot geworden, Schauer liefen mir über den Rücken. Dass wirklich etwas von dir da war, etwas aus der anderen Welt, so verirrt, so wundersam hier. Ich weiß selbst nicht, was in diesen Augenblicken in mir vorging. Ich warf mich auf mein „Bett“, riss meinen Rock in Fetzen und verschlang deinen Brief mit großen Bissen, dann gleich nochmal und nochmal, immer langsamer, bis ich jedes Wort in mich aufgenommen hatte, schluchzend, laut heulend, weil der Bann gebrochen war, von dir, von dir ein Brief war. Ein heißes, verzweifeltes Verlangen brannte in mir, noch, und es gibt keine Stille, nie, nie, um ineinander zu versinken. Sonntag, 20. Juni. Ich bin in einer glücklichen Stimmung. Die Sonne scheint, wir sind ausgeruht und erst um sechs Uhr aufgestanden. Jetzt ist es sieben. Gerade noch Zeit zum Schreiben vor dem Appell. (...) Ich glaube, dass das Tagebuch auf die Dauer das Kostbarste sein wird, was ich besitze. Mittwoch, 30. Juni. Verrückt, ich dachte, dass ich gar nicht mehr anders könnte, als jeden Tag zu schreiben, und jetzt habe ich schon eine Woche nicht geschrieben, eine ganze Woche. Nicht weil nichts geschehen wäre . . . genug. Aber ich war nicht in Stimmung, ich weiß nicht, ich habe einfach vughtisch gelebt. Kein Kampf, keine Freude, Glück, ein mir Entgleiten, ein Nichts, Nichts. 1. Juli 1943 1 Monat, ein Jubiläum und was für eines. Packen, heute Morgen ein sterbendes Kind, was mich völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hat, aber das alles ist nichts, verglichen mit dem Letzten. Wieder ein Transport, und diesmal sind wir auch dabei. [undatierte Postkarte] Liebster Danke. Brief erhalten und gelesen. Tagebuch kriegst du. Hölle unbeschreiblich. Halte mich gut. Helga 2. Juli 1943. Liebe Drei. Mitten im Packen, schnell noch ein paar Zeilen. Denn wir gehen hier fort. (...) Der Transport ist wieder riesengroß, nur was in der Industrie arbeitet, bleibt hier. (...) Die Stimmung hier ist merkwürdig gut, teilweise sogar fröhlich, obwohl die Männer im Allgemeinen noch niedergeschlagener sind als die Frauen. Das starke Geschlecht! Mich selbst kann nichts aus der Ruhe bringen, keinen von uns, wir sind gesund, fröhlich und mutig und gehen dem Neuen mit dem größten Optimismus entgegen. Landstreicher, heimatlose Gesellen sind wir – also müssen wir uns auch an ihre Lebensweise anpassen. Was wir diesen Monat durchgemacht haben, ist unbeschreiblich, und für jemanden, der es nicht selbst durchgemacht hat, unvorstellbar. Dieser Monat wurde zu einer Ewigkeit. Ein schrecklicher Albtraum, aus dem man nicht wach werden kann und der trotzdem verstreicht, so schlecht oder gut es eben geht. Angst kenne ich keine mehr, es gibt keine schrecklichen Überraschungen mehr, das Unmöglichste ist möglich geworden. Trotzdem weiß ich, dass ich durchkomme, man hat es zum großen Teil selbst in der Hand, solange man nur will. Und ich will, will, will, was auch geschieht. (...) Mein Tagebuch ist etwas Kostbares für mich, ich habe oft hineingeschrieben und war immer getröstet. (...) Alles, alles Liebe, Mut und Vertrauen! Eure Helleke ++++++ „Wenn mein Wille stirbt, sterbe ich auch. Tagebuch und Briefe“ von Helga Deen erscheint am 23. April 2007 im Rowohlt Verlag. Das Buch kostet 12,90 Euro.

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