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Nicht in meinem Vorgarten!

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Lena* isst nach Plan. Er sagt ihr, wann sie was und wie viel essen soll. Doch im Moment fällt es ihr schwer, diese Vorgaben einzuhalten. „Ich habe Angst, dass ich dann total viel zunehme“, sagt sie, „eigentlich ist das total bescheuert.“ Sie lacht, kurz und leise.

  Lenas Angst ist nicht bescheuert, denn Lena ist krank. Magersüchtig, seit fünf Jahren. Zehn Kilo hat sie in den vergangenen Monaten zugenommen und doch ist sie so dünn, dass der Sessel, in dem sie sitzt, mit ihr darin viel größer aussieht und sie selbst wesentlich jünger als eine Zwanzigjährige wirkt. Die Füße und Beine hält sie geschlossen, die Arme eng am Körper. Sie macht sich klein.

  Seit Dezember ist Lena in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des DRK-Krankenhauses in Altenkirchen, einer kleinen Stadt im Westerwald. In fünf Kliniken war sie bisher, richtig gesund geworden ist sie nie. Immer, wenn sie zu Hause war, hat sie wieder abgenommen. Jetzt gibt es für Lena eine neue Chance. Dr. Haverkamp-Krois, die leitende Ärztin der Abteilung, und ihre Kollegin, die Kunst- und Gestaltungstherapeutin Christiane Koop, haben die „Villa Phoenix“ gegründet, eine Wohngruppe für essgestörte Mädchen. Anorektische und adipöse Klientinnen sollen hier nach der Entlassung aus einer Klinik in den Alltag zurückfinden, ohne sofort wieder in die familiären Strukturen eingebunden zu werden, aus denen sie kommen. Dabei werden sie von Therapeuten und Ernährungsberatern betreut, gehen zur Schule oder machen eine Ausbildung. „Ich stelle mir das wie ein Auffangbecken vor. Die Mädchen brauchen Struktur und eine emotionale Gemeinschaft “, sagt Christiane Koop.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



  Die Wohnung, in die die Mädchen einziehen sollen und die Christiane Koop im April 2011 gefunden hat, liegt in einem Haus, das tatsächlich wie eine Villa aussieht: groß, mit Erkerfenstern und einem schönen Garten dahinter. Auch die Lage am Rande eines Wohngebiets gefiel den Projektleiterinnen auf Anhieb, weil die Gruppe aus bis zu sieben Mädchen, so die Ärztin, „in einer ganz normalen Umgebung“ leben soll. Der Vermieter war sofort begeistert von dem Projekt, mit freiwilligen Helfern wurde renoviert. In den hellen Zimmern mit Dielenboden gibt es nun weiße Möbel, die Wände sind in zarten Farben gestrichen. Alles ist bereit. Doch die Zimmer stehen leer. Das Projekt konnte bisher nicht starten, weil die Nachbarn der Villa der Meinung sind, dass das Therapie-Projekt nicht in ihr Wohngebiet passt. 

  Damit sie in die bisher privat genutzte Wohnung einziehen können, musste das Team der Villa beim Bauamt eine Nutzungsänderung beantragen. Das Amt informierte daraufhin die Anwohner über die zukünftige Nutzung durch eine therapeutische Wohngruppe. Einigen gefiel das nicht. Sie erhoben beim Kreisrechtsausschuss Einspruch und klagten vor dem Verwaltungsgericht in Koblenz. Man wolle keine gewerbliche Einrichtung in der Nachbarschaft haben, hieß es, dies sei ein reines Wohngebiet und solle das auch bleiben. Bei einem Begegnungsnachmittag mit Kaffee und Kuchen, zu dem die beiden Initiatorinnen einluden, sollten Spannungen abgebaut werden und Anwohner und Mädchen sich kennenlernen. „Drei Leute sind gekommen, die sich hässlich zu unserem Projekt geäußert haben, und das war’s“, erzählt Christiane Koop. Mit den Mädchen sprachen sie gar nicht erst. Die Einrichtung senke den Wert ihrer Grundstücke und man wolle „keine kotzenden Mädchen im Vorgarten“ haben, zitierte die lokale Rhein-Zeitung die Gegner. Daraufhin gab es viel Wirbel und Empörung, vor allem aber auch Unterstützung für die Gruppe.

  Das Wohngebiet um die Villa liegt abseits des Stadtzentrums. Der gehobene Mittelstand ist leicht zu erkennen, an den gepflegten Einfamilienhäusern und Gärten, den ordentlich eingezäunten Grundstücken. Hier achtet man auf seinen Besitz. Selbst an einem Montagnachmittag ist es fast bedrückend still. Kaum ein Auto fährt die schmale Straße entlang, nur ein Rasenmäher rattert irgendwo. Wenn man an einer Tür klingelt oder über einen Gartenzaun hinweg die Bewohner auf den Fall „Villa Phoenix“ anspricht, reagieren sie verärgert. Der Tenor lautet: Man habe nichts gegen die Mädchen, es ginge rein um die Nutzungsänderung, der Artikel der Rhein-Zeitung grenze an Rufmord. Es ist, als würden die Gegner zurückrudern, aufgeschreckt durch die mediale Aufmerksamkeit. Einer der Beschwerdeführer beklagt, man sei nicht ausreichend informiert worden: „Es ist nicht der richtige Weg, das über ein Kaffeekränzchen zu lösen. Da muss man das Einzelgespräch mit den Anwohnern suchen.“ Hätte es den Wunsch nach Einzelgesprächen auch gegeben, wenn in die Villa ein örtlicher Verein oder eine Arztpraxis einziehen würde?

  Die Anwohner wollen ihre Ruhe. Die Initiatorinnen glauben, dass die Nutzungsänderung nur ein vorgeschobener Grund ist. „Es ging dabei immer um essgestörte Mädchen“, sagt Dr. Haverkamp-Krois. Sie hat ähnliche Erfahrungen gemacht, als sie 2007 ihre psychiatrische Abteilung eröffnete: „Es hat lange Diskussionen gegeben, ob eine Kinder- und Jugendpsychiatrie überhaupt in einem normalen Krankenhaus untergebracht werden kann.“ Wenn sie über die möglichen Gründe für den Widerstand spricht, klingt sie nicht aufgebracht, sondern eher besorgt. „Das hat viel mit Unwissenheit zu tun, mit fehlender Kontrolle und der Angst, dass es einen auch erwischen könnte.“ Für die meisten gesunden Menschen ist eine Krankheit wie Magersucht schwer nachvollziehbar, darum nehmen sie eine Abwehrhaltung ein. Christiane Koop kennt das Problem: „Die Familienangehörigen sagen oft: Die muss doch einfach nur was essen.“ Auch Lenas Vater hat sich nach und nach von ihr abgewandt. „Er denkt, dass ich nicht richtig mitarbeite“, erzählt sie. Aber sie kann ihm einfach nicht erklären, warum sie nicht essen kann. Weil sie es meistens selbst nicht versteht.

  Studien in den USA und Großbritannien haben ergeben, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung glaubt, dass Menschen mit Magersucht hungern, um Aufmerksamkeit zu erlangen und selbst Schuld an ihrer Situation seien. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass die Erkrankten oft aus guten Elternhäusern stammen und als „verwöhnt“ gelten. Diese Situation kann, neben dem Eintritt in die Pubertät und Veranlagung, eine Erkrankung begünstigen, glaubt Dr. Haverkamp-Krois: „Die Mädchen stehen unter Druck, zwischen Klavierunterricht, ‚Ich möchte Jura studieren' und mein Pferd muss heute versorgt werden.“ Magersucht ist oft eine Krankheit des gehobenen Mittelstands, in dem es immer genug zu Essen gibt, und Nahrung darum eine Möglichkeit bietet, sich abzugrenzen. Damit ist sie aber auch eine Krankheit des Wohngebiets rund um die Villa Phoenix, eine Krankheit der Vorgärten, aus denen die Anwohner sie heraushalten wollen. Vielleicht auch aus Angst, es könnte die eigenen Kinder treffen. Denn dann müsste man sich den Vorurteilen stellen, die man aus der eigenen Nachbarschaft nur allzu gut kennt. „Auf dem Land hat man Angst, in Richtung Psychiatrie gesehen zu werden“, sagt Dr. Haverkamp-Krois, „dabei sollten die Menschen den Mut haben, direkt zum Therapeuten zu gehen, und nicht erst zum Hausarzt.“

  Im Oktober kann die Gruppe wohl die Villa beziehen, eineinhalb Jahre nach der ersten Besichtigung. Die Klage ist abgewiesen, der Kreisrechtsausschuss muss seine Entscheidung noch bekannt geben, wird aber wohl nicht gegen das Verwaltungsgericht entscheiden. Ende August wird bei einer Veranstaltung im Altenkirchener „Spiegelzelt“ noch einmal Aufklärungsarbeit geleistet, um das Städtchen von dem Projekt zu überzeugen. Es fehlen noch Klientinnen – wegen der Verzögerungen mussten die ursprünglichen Kandidatinnen anderswo untergebracht werden.

  Eine Mitbewohnerin gibt es aber schon: Lena. Gerade wurde sie in eine Reha-Klinik verlegt, wo sie das Mindestgewicht für die Aufnahme in die Villa erreichen soll. „Wir sind auch nur ganz normale Jugendliche“, das würde sie den Gegner sagen, wenn sie könnte. Wie groß ist die Sorge, dass diese die Gruppe schlecht aufnehmen werden? „Am Anfang hatte ich Angst davor“, gibt Christiane Koop zu, „aber jetzt nicht mehr. Ich denke, wir werden die Leute eines Besseren belehren.“

*Name geändert
 
Kontaktdaten zur „Villa Phoenix“ und dem Wohngruppen-Projekt unter villaphoenix.de.



Text: nadja-schlueter - Foto: speednik/photocase.com

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