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Im verwilderten Garten der Kaulbachstraße 29a sitzen acht Studenten an einem Biertisch und frühstücken: Orangensaft, eine Packung ja!-Schinken, Käse, Filterkaffee. Hinter ihren Rücken türmen sich Bier-, Wein- und Schnapsflaschen. Gleich geht es ans Aufräumen. Oder besser: ans Ausräumen. Denn die Flaschen sind die Überreste einer Abschiedsparty. Das Studentenwohnheim Kardinal-Wendel-Kolleg (KWK) wird am 30. September nach gut 60 Jahren geschlossen. Die Sanierungskosten für eine fortwährende studentische Nutzung liegen im siebenstelligen Bereich, und den kann sich der Jesuitenorden, Besitzer und Träger des Heims, nicht leisten. Deshalb wird er das Haus fortan nur als Verwaltungsgebäude nutzen.

„Wir haben hier immer gewohnt wie in einer großen WG“, erzählt Steffi, 26, Lehramtsstudentin. Sie steht kurz vor dem ersten Staatsexamen und lebt seit vier Jahren im KWK. Sie entfernt sich aus der Frühstücksrunde, geht ins Haus und die Treppen zu ihrem WG-Flur im zweiten Stock hinauf. Durch die verstaubten Fenster scheint warmes Herbstlicht. Links und rechts gehen graue Türen ab, hinter denen die einzelnen Zimmer liegen. Neben einigen stehen die Namen mit Farbe geschrieben, an anderen hängen einfache Schilder. Am Ende des Flurs liegt ein Balkon, er ist vollgestellt mit Stühlen und Pflanzen. An der Glastür ein Zettel: „Finger weg! Ab hier nichts zu vergeben“. Heute muss hier jeder ganz genau auf seine Sachen aufpassen, denn das Wohnheim hat über Facebook und diverse E-Mail-Verteiler zur großen Auflösung geladen. Bis auf das Zimmerinventar der Jesuiten soll alles raus.

Die Zimmer sind winzig: Auf gerade einmal neun Quadratmetern stehen ein Bett, ein Schrank, ein Regal, ein Schreibtisch und ein Waschbecken. Auf gegenüberliegenden Fluren wohnten jeweils acht Jungs und acht Mädchen in WGs und teilten sich Küche, Balkon, ein geräumiges Wohnzimmer, sowie Toiletten und Duschen. An den Fernsehern, Kühlschränken, Sofas, Tischen und Topfpflanzen kleben herzförmige Post-its mit der Aufschrift: „Nimm mich mit“. In den Fluren stehen Kartons, aus denen jede Menge Haushaltskram quillt. Cocktailfähnchen mit Länderflaggenmotiven, alte VHS-Kassetten, ein christlich-bayerisches Kochbuch, eine Wanduhr mit Audrey-Hepburn-Motiv. Hier findet sich alles, was mehrere Studentengenerationen angeschwemmt haben. 64 Studenten fanden hier Jahr für Jahr Platz zum Leben, direkt am Englischen Garten und für jeweils nur 180 Euro im Monat. Religiosität war nie Voraussetzung für die Aufnahme. Einziehen durfte jeder, der eine gewisse soziale Dringlichkeit aufweisen konnte – etwa mehrere Geschwister und ein geringes Einkommen der Eltern.

Keiner weiß nach all den Jahren mit wechselnden Bewohnern mehr genau, woher das ganze Mobiliar eigentlich stammt. Dinge verschwanden, Dinge kamen wieder, und ab einem gewissen Zeitpunkt gehörten sie dem einen so sehr wie dem anderen. Mit so vielen verschiedenen Menschen auf engem Raum zu leben erfordert ein großzügiges Eigentumsdenken. Deshalb wird jetzt alles verschenkt. Zwei Jungs schleppen einen riesigen Holztisch die Treppe herunter, sie können ihn in ihrer WG gebrauchen. Yu Huong, Jurastudent aus Korea, freut sich über ein Bügeleisen. Giulia aus Spanien arbeitet in München als Kellnerin; sie bewohnt ein karges Kellerzimmer in einer WG und sucht heute nach Bildern zur Dekoration.



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In der Küche haben sich ein Junge und ein Mädchen in der Unordnung gerade eine Insel freigeräumt, um sich ihr Mittagessen zu kochen. Töpfe, Besteck und Tassen stehen herum, alte Essensreste liegen in der Spüle, auf dem Balkon stapeln sich Leergut und Verpackungsmüll. An der Wand mahnen vergilbte Zettel zu Ordnung und Sauberkeit – sie scheinen in den letzten Wochen des Heims kaum noch Beachtung gefunden zu haben.
 
Im Partykeller des Kollegs steht Theresa über die Bar gebeugt und schrubbt Alkohol- und Saftreste der letzten Nacht weg. Obwohl die 28-Jährige seit drei Jahren nicht mehr hier lebt und längst an einer Schule außerhalb Münchens arbeitet, kommt sie regelmäßig zu Besuch. „Hier wird eine funktionierende Gemeinschaft aufgelöst“, sagt sie. Es gab etwa alle zwei Wochen ein Fest und alle paar Tage ein großes „Stockwerksessen“. Man habe Spaziergänge durch den Englischen Garten gemacht oder sei vor der Uni joggen gegangen. „Einmal zu Weihnachten sind wir mit mehreren Leuten in den Eisbach gesprungen, die sogenannte Eisbachtaufe – das werde ich nie vergessen“, erzählt sie.
Theresa ist nur eine von vielen Ehemaligen, die regelmäßig wieder hierherkommen. „Es war schon eine Besonderheit des KWK, dass immer auch Ältere zu den Festen kamen und den Jüngeren von ihren Erfahrungen in der Berufswelt erzählten.“ Mit den Jesuiten haben die Studenten sich immer gut vertragen. Einige von ihnen wohnen selbst im Haus, in den oberen Fluren. Viele sind schon über 70 Jahre alt.

„Es tut weh, dass das Heim genau jetzt geschlossen wird“, ärgert sich Steffi, die nun mit Freundinnen an einer Glastür in der Eingangshalle lehnt und die vielen Besucher beobachtet, die ihre Sachen nach Brauchbarem durchsuchen. Aus einem Ghettoblaster dröhnt eine alte Partyhits-CD. Lou Bega singt „Mambo Number Five“. „Seit einigen Jahren ist klar, dass hier dicht gemacht wird. Der Schließungstermin wurde immer wieder verschoben – und jetzt, Ende September, im Jahr der Doppeljahrgänge und zum denkbar schlimmsten Zeitpunkt für die Wohnungssuche müssen wir raus“, klagt Steffi. Der Direktor des Hauses, Martin Mayer, weiß um die unangenehme Lage der Studenten. Er bedauert sie zutiefst. „Wir haben wirklich alles versucht, doch noch ein Jahr können wir die Auflösung einfach nicht vor uns herschieben“, beteuert er.

Steffi weiß noch nicht, wo es für sie im nächsten Monat hingeht. Einige ihrer Mitbewohner und Mitbewohnerinnen haben Glück gehabt und sich frühzeitig im nebenan liegenden Newman-Wohnheim oder in anderen Studentenunterkünften einen Platz sichern können. Andere ziehen mit ihren Partnern zusammen, in eine günstige WG am Stadtrand oder erst einmal zurück zu den Eltern. Doch viele suchen noch immer nach einer neuen Bleibe. Da schafft auch das einige Häuser weiter neugegründete Studentenwohnheim des Evangelischen Waisenhausvereins keine Abhilfe. Die dort angebotenen Apartments sind nicht unter 350 Euro im Monat zu haben. Das kann sich keiner hier leisten.

Text: mercedes-lauenstein - Fotos: Juri Gottschall

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