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Raus aus der Zelle: Wie Häftlinge in einem Jugendknast eine Chance bekommen

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Die Neuen hängen grölend in den Fenstern, drücken die Köpfe durch die Gitterstäbe. „Das hier ist ein Kindergarten“, brüllt einer, „kein Gefängnis.“ Die Wärter lassen sie schreien. Sie stehen am Hang, schauen in den Hof hinunter, kaum dass man sie in ihren tarngrünen Pullovern und Hosen gegen den nassen Rasen wahrnimmt. Die Häftlinge unter ihnen sammeln sich auf Sprachinseln, die Türken, die Deutschen, die Russen. Wie Schuhkartons mit Löchern liegen die Hafthäuser um sie herum verstreut. An den Türen prangen Buchstaben, das Alphabet des Knasts. Die Kleinen wohnen im E-Bau, Vergewaltiger in F, der C-Bau ist für die Schwächsten. Und dann ist da noch das G3. G3 heißt: du bist der Freiheit so nah wie möglich. Die Justizvollzugsanstalt (JVA) in Adelsheim, irgendwo im baden-württembergischen Niemandsland, ist eines der drei größten Jugendgefängnisse in Deutschland – und vielleicht eines der Besten. In einer Zeit, in der Roland Koch sich mit immer neuen Forderungen nach härteren Strafen selbst überbietet, setzt man hier gerade auf das Gegenteil: Haftlockerungen. Die rund 400 Jugendlichen zwischen 14 und 23 werden nicht einfach verwahrt. Sie werden auf ein Leben in Freiheit vorbereitet – indem man ihnen die Freiheit lässt, eines aufzubauen. Oder, um es mit den Worten des Gefängnisdirektors Joachim Walter zu sagen: „Nicht Zwang, sondern Zug.“ Walter spricht gerne in Bildern. Am liebsten mag er das vom Esel, der die Hufe in den Sand bohrt, solange man ihn schlägt. Besser ist es, ihn mit einer Möhre zu locken. Nirgends wird Walters Bildnis lebendiger als im G3. Ein bisschen oberhalb der ehemals weißen 70er-Jahre-Flachbauten liegt das Holzhäuschen. Die Tür steht offen, es gibt keine Gitter, jeder der 15 Häftlinge hat seinen eigenen Schlüssel. Sali (Name geändert) wischt die Krümel von der gelben Wachstischdecke. Diese Woche hat er Küchendienst. Im Regal stapeln sich Brettspiele, hinter den Vorhängen blitzt ein Stückchen Odenwald, Hügel, Tannenbäume, die Atmosphäre erinnert an ein Landschulheim. Bis auf die fünfeinhalb Meter hohe Mauer, die das Gelände einzäunt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

„Scheiße bauen“ gilt als cool Vor ein paar Wochen wurde Sali von den übrigen Bewohnern zum zweiten Vorsitzenden des Hauskomitees gewählt. Jeden Mittwoch leitet er zusammen mit einem weiteren Häftling und einem Bediensteten der Anstalt die Haussitzung. Denn im G3 entscheiden die Insassen über alles selbst, ganz demokratisch. „Just Community“ heißt das Projekt, das eine simple Realität anerkennt: In dem Alter, in dem die Jugendlichen in Adelsheim einsitzen, haben Gleichaltrige viel größeren Einfluss aufeinander als jeder Wärter. Während man anderswo vergebens versucht, den Jugendlichen Ehrfurcht einzuflößen, macht man sich im G3 ihre Stärke zunutze. Die Häftlinge entscheiden selbst über ihre hausinternen Regeln, sie verhängen Strafen – meist härter, als die der Anstalt – sie experimentieren. Einen Tag legt die Mehrheit fest, dass zwei Minuten Verspätung zum Frühstück einen Tag Küchendienst kostet, den anderen schafft sie es wieder ab. Basisdemokratie im Selbstversuch. Fast alle Bewohner sind irgendwie froh in Adelsheim zu sein. Irgendwie. „Sonst ändert man sich nicht“, sagt Sali. Er lehnt an einem Stockbett, die Streifen seiner Adiletten sind abgeblättert. Bevor er hierher kam, musste er schon mal ein Wochenende in den Knast. Warnschussarrest. Als er nach zwei Tagen entlassen wurde, war er in der Gunst seiner Freunde nur gestiegen. „Ich hab halt wieder Scheiße gebaut.“ Bei Sali ist „Scheiße bauen“ eine Chiffre für schweren Raub. Ein paar Wochen vor dem Realschulabschluss hat er eine Spielhalle überfallen. „Ich wollte beweisen, dass ich die Eier dazu hab“, sagt er. „In dem Moment der Tat denkt jeder, dass er davonkommt“, sagt Walter, „deshalb bringen auch härtere Strafen zur Abschreckung gar nichts.“ Sali wird erwischt. Ein paar Tage sitzt er in Stammheim zur Untersuchungshaft. Der Gestank in der Zelle ist unerträglich. Auf der einen Liege hängt ein besoffener Penner. „Klar hab ich mich gefürchtet, und wie“, sagt Sali. Er ist der Erste an diesem Tag, der sich traut, über Angst zu sprechen. Angst im Knast ist etwas Gefährliches. Wer Angst hat, wird zum Opfer. Wer Angst hat, wird ein Fisch.


Im Gefängnis sind Fische diejenigen, die sich nicht wehren können, die sich quälen lassen. Fische erkennt man daran, dass sie niemals Zigaretten haben, dass sie ungewöhnlich häufig stolpern, dass sie sich tagelang nicht auf den Po setzen können, weil man sie „zum Weib“ gemacht hat. Fische wohnen im C-Bau – das krasse Gegenteil zum G3. Ein Junge mit aufgeschwemmtem Gesicht und roten Haaren wartet darauf, dass ihm jemand seine Zelle aufsperrt. Er sei ein Einunddreißiger, sagt er ohne zu zögern, deshalb sei er im C-Bau. 31 ist der Kronzeugenparagraph. So heißen die Verräter. Die Einunddreißiger trauen sich oft nicht mal mehr die eine Stunde raus, die das Gesetz jedem gewährt. So grausam die Hierarchie auch ist, sie zu ignorieren wäre grausamer. Im schlimmsten Fall kann das enden wie vor einem Jahr in Siegburg, als zwei Häftlinge einen Mitgefangenen zwangen, Urin von einer Toilettenbürste zu lecken, ihn Abschiedbriefe schreiben ließen und ihn schließlich an einem Kabel erhängten. Mauern aus Glas In Adelsheim arbeitet man mit, nicht gegen die Subkulturen. Wie in jedem Gefängnis gibt es zwei Gesetze: die der Anstalt und die der Knastbosse. Wer weder ungewöhnlich stark ist noch im C-Bau landen will, hält sich an letztere. In Adelsheim versucht man die Insassen so wenig wie möglich von der Außenwelt abzuschotten. In den anstalteigenen Betrieben werden zusammen mit den Häftlingen auch 30 junge Männer aus der Umgebung ausgebildet – in der strukturschwachen Gegend sind diese Plätze begehrt. Und die Jungs von draußen importieren ein Stück Normalität hinter die Knastmauern. „Am liebsten wäre es mir, die Mauern wären aus Glas“, sagt Sali. Er ist für einen Neuanfang in dieser Normalität vorbereitet. In der Haft hat er seinen Abschluss gemacht, er nimmt Gitarrenunterricht und spielt mit dem Gedanken, Fachabitur zu machen. „Zukunftspläne schmiedet man nur im offenen Vollzug“, sagt Joachim Walter. Wer den ganzen Tag in seiner Zelle hocke, ohne Perspektive und Kontakt nach außen – abgesehen von der täglichen Talkshow-Dosis – entwickle keinen Willen, sich zu verändern. Die Statistiken sprechen für Walter. Von den Jugendlichen, die ihre Haft überwiegend im gelockerten Vollzug verbringen, werden nur 37 Prozent rückfällig – im geschlossenen sind es 63. „Rigides Vorgehen ist untauglich, die Rückfallquoten zu senken“, sagt er. Härte macht nur hart. Sali sieht das anders. „Wenn man so einen Brief vom Regierungsministerium kriegt, in dem sie einem androhen, dass man abgeschoben wird, rüttelt das schon wach“, sagt er. Wie die meisten im Knast hält er höhere Strafen für ganz sinnvoll. Walter überrascht das nicht. „Die Jungs haben ja keine anderen Lösungsstrategien gelernt“, sagt er. Sprich: je einfacher das Gemüt, desto lauter der Ruf nach Haftverschärfungen. Manchmal eben auch in der Politik.

Text: sarah-stricker - Foto: ap

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