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Auf dem Dach des Studentenwohnheims, im dreiundzwanzigsten Stock, heult der Wind. Diese Plattform auf dem Gipfel des Hochhauses ist 30 mal 10 Meter groß und vollständig kahl: Nur zwei verblichene Graffitis zieren die Wände, zwischen den Betonplatten keimen magere Grasbüschel. Von hier aus sieht man weit in die Ferne. Blick nach links: die Autobahn A9. Blick nach rechts: die Alpen. Darüber ist nur der Himmel. Darunter wohnen 630 junge Menschen, jeder auf 12 Quadratmetern mit Kochnische und Bad. Der Film „Desperanto“, der derzeit in der Münchner Studentenstadt gedreht wird, greift drei Schicksale aus dem Erinnerungsschatz der Studentenstadt heraus, für die dieses Dach zu einem Drehpunkt auf der Suche nach sich selbst wird. Die Geschichten der drei Bewohner könnten unterschiedlicher nicht sein, haben aber einen gemeinsame Nenner – einen Selbstmordgedanken.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Zimmer 1100: Sin ist 26 und studiert Physik an der TU München. Er kommt aus Shanghai und ist in Deutschland sehr einsam. Als Hanna, eine 16-jährige Punk-Lolita, seine Nachhilfeschülerin wird, verstrickt er sich in seinen Gefühlen. Zimmer 1420: Clara kommt aus Frankreich und macht ein Austauschsemester in München. Auf der Suche nach Gott ist sie bemüht, alle zehn Gebote zu brechen – denn nur so wird der Schöpfer auf sie aufmerksam. Ein Gebot hebt sie sich bis zum Schluss auf: „Du sollst nicht töten“. Zimmer 0512: Motek ist Lette, seit seiner Geburt taubstumm und schwer verliebt in die Bibliothekarin Elvira. Um sie kennen zu lernen, schlägt er ihr ein Spiel vor: Sie soll mit ihm einen Tag verbringen, unter der Bedingung, dass kein Wort gesprochen werden darf. Es ist der vierundzwanzigste Drehtag. Unten wuseln die Studenten, sie schlendern in der Sonne, rennen zur U-Bahn und tragen ihre Einkäufe nach Hause. Oben peitscht der Wind vergeblich gegen die Glasscheiben, die das Dach umschließen, und prallt an ihnen ab. Es ist fast sommerlich warm. Roll 25, Scene 67-4, Take 3. Hanna springt auf und rennt los. Sie überquert das Dach und hält in der rechten Ecke an. „Hast du hier schon mal ein fickendes Pärchen gesehen?“, fragt sie Sin. Er nickt. Und noch mal. Take 4. Hanna rennt wieder von einer Seite auf die andere. Und wieder. Dann ist die Szene im Kasten. Hannas Klamotten werden erneut mit Stecknadeln befestigt, Sin bekommt Anweisungen für die nächste Szene. Etwa 25 Leute tummeln sich auf dem Dach. Das Team arbeitet seit fast einem Monat zusammen, jeden Tag 12 bis 13 Stunden. Von Montag bis Sonntag, ehrenamtlich. Das Drehbuch sei es gewesen, das die meisten Mitarbeiter überzeugt hat, sagt Fritz Böhm, einer der Produzenten des Films. „Nur wenn sie von der Geschichte begeistert sind, stellen sich Profis 31 Tage lang ohne Bezahlung ans Set.“ „Desperanto ist ein Guerilla-Film, mit sehr wenig Geld und sehr viel Leidenschaft“, erzählt Böhm. Gespart wird an allen Ecken und Enden und trotzdem wollen die Macher hoch hinaus: „Wir drehen mit Mitteln eines Amateurfilms, was rauskommt, wird ein professioneller Streifen.“ Auch hofft das Team auf ein breites Publikum: „Obwohl Desperanto sich um Jugendliche dreht, ist es kein typischer Coming-Of-Age-Film.“ Die Motive Glaube, Liebe und Hoffnung seinen alterlos. Und die Geschichte einzigartig, weil wahr. Drei Jahre hat Thomasz Rudzik – gleichzeitig Regisseur und Autor – gebraucht, um das Drehbuch zu schreiben. Er selbst wohnte jahrelang in der Studentenstadt und sammelte von Anfang an Geschichten über ihre Bewohner. Die Stärke seines Films sei, dass er am Drehort seine Wurzeln habe. Auch die Charaktere sind authentisch. Sin heißt im wirklichen Leben Lizhe Liu und ist eigentlich kein Schauspieler. Er ist 21, studiert tatsächlich Physik und wohnt in der Studentenstadt. Moitek wird von einem Taubstummen gespielt. Das Thema, das Sich-Verstellen-Müssen, um anderen zu gefallen, sei ebenfalls nicht ausgedacht. Die Helden des Films sind Außenseiter – Ausländer, die in Deutschland kälter empfangen wurden, als sie erwartet hatten. Das Ächzen des Fahrstuhls hallt durch den Flur noch lange bevor er im dreiundzwanzigsten Stock ankommt. Ein asiatischer Junge steigt aus, wirft einen kurzen Blick auf das Set und geht seines Weges. Dass in der Studentenstadt viele Ausländer wohnen, wird deutlich, wenn man die braunen Briefkästen im letzten Stock anschaut: Mitwalsky, Rasculin, Mahaffey steht auf den Namensschildchen. Suchende und Stolpernde „Etwa 40 bis Prozent der Wohnheimbewohner in München kommen aus einem anderen Land“, sagt die Studentenwerkmitarbeiterin Anke van Kempen. Für sie sei es schwieriger, Anschluss zu finden. In München trifft es die Studenten besonders hart – die Uni ist groß und anonym, das Leben teuer. „Im Wohnheim haben sie es noch vergleichsweise gut“, sagt van Kempen. „Es gibt Tutoren, Gemeinschaftsräume, gemeinsame Frühstücke, Ausflüge. Die Gefahr zu vereinsamen ist geringer.“ Es gebe trotzdem Studenten, die an Depressionen leiden, die psychologische Betreuungsstelle sei überlaufen. „Vor lauter Exzellenzinitiative wird oft vergessen, dass es noch ein Leben außerhalb der Uni gibt“, sagt van Kempen. Sie erwartet nicht, das Desperanto die Gesellschaft aufrüttelt. Aber vielleicht weckt es ja das Interesse, zeigt die andere Seite des Studentenlebens. Denn: „Auch ein Elitestudent ist keine Maschine.“ Das gilt auch für die Helden des Films: Desparanto ist ihre Sprache – eine Mischung aus dem internationalen Dialekt Esperanto und dem spanischen Wort Desperados, was für die Verzweifelten, die Revolverhelden steht. Desperados, so nennt der Regisseur Thomasz Rudzik seine Charaktere. „Sie sind Stolpernde, Spuckende, Schweigende, Liebende, Hassende, Suchende, Weinende, Lachende, Hoffende . . . Sie sind besondere Menschen. Sie kaufen ihre Träume nicht im Fünferpack eines Supermarktes. Sie sind das, wofür wir ins Kino gehen.“

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