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Stehblues in weißen Cowboystiefeln

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Die Security sieht Furcht einflößend aus: drei menschliche Schränke, jeweils zwei Meter hoch und um die Schultern herum fast einen Meter breit, gekleidet in schwarze Bomberjacken, Jeans und blank polierte braune Lederschuhe. Die Haare tragen sie raspelkurz und einem von ihnen fehlt ein kleines Stück Schneidezahn. Die Türsteher des "Avarija" in Marktoberdorf entsprechen auf den ersten Blick allen Klischees.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

In eine "echte Russendisko" wollte ich, nicht zu einer Pseudoveranstaltung eines Romanautors, der eigentlich hauptberuflich in Talkshows sitzt, sondern in einen Club, in dem russlanddeutsche Jugendliche am Wochenende feiern. Meine Freundin Mascha, selbst Russin, reagierte besorgt: "Da darfst du auf keinen Fall alleine hingehen!", schärfte sie mir ein und schilderte eine Szene, die sie einmal in einer russlanddeutschen Familie miterlebt hatte: Der 18-jährige Sohn der Familie beauftragte seine Mutter, bevor er in den Club ging, ein schwarzes T-Shirt zu bügeln, weil darauf die Blutflecken der bevorstehenden Schlägereien nicht so auffallen. Die Mutter weigerte sich, der Vater sagte: "Er ist doch ein Junge." Die Mutter weinte - und sie bügelte. Mascha stellte also zu meinem Schutz eine Reisegruppe zusammen: Ihr Freund Roman, dessen Cousine Marina und sie selbst. Alle drei sind in der Sowjetunion geboren und alle drei studieren nun in Deutschland. Sie sprechen fast akzentfreies Deutsch, verbringen aber trotzdem einen großen Teil ihrer Freizeit mit anderen "Russen". Im Auto versuchen sie mir auseinanderzusetzen, wie die russische Jugendszene in Deutschland aufgebaut ist: "Da gibt es zunächst mal die Gopniks", doziert Mascha. "Gopniks tragen ballonseidene Trainingsjacken und sind meistens Russlanddeutsche aus kasachischen und sibirischen Dörfern, obwohl es auch Großstadt-Gopniks gibt." Für die Gopniks seien Roman, Marina und sie "Botaniki", also "Botaniker", merkwürdige Intellektuelle, die meist aus großen Städten stammen. Teils sind sie ebenfalls Russlanddeutsche, teils jüdischstämmige Kontingentflüchtlinge und auch junge Russen, die zum Studium nach Deutschland gekommen sind. Botaniki hören Musik, die für Gopniks ziemlich abgedreht klingt: "Balkan-Rumba aus Moskau - Russian Ska mit Klezmer-Tönen", steht zum Beispiel auf den Flyern für ein Konzert, das Mascha mitorganisiert und für das sie heute Abend nebenbei ein bisschen Werbung machen will. Roman hält das für sinnlos: In so einem Dorfclub seien sicher nur Gopniks. Wir finden das Avarija in einem Gewerbegebiet nahe der Schnellstraße. Nebenan ist die KFZ-Zulassungsstelle und ein Etablissement namens "La Bella", über dessen Tür eine riesige nackte Neonröhrenfrau thront. Der Eingang des Clubs sieht vergleichsweise unauffällig aus, doch Autokennzeichen verraten, dass für eine Nacht im Avarija gerne 100 Autokilometer in Kauf genommen werden. Die bulligen Türsteher begrüßen uns auf Russisch, für drei Euro Eintritt kriegen wir einen Stempel auf die Hand und drei Papiergeld-Dollar. Damit gibt es an der Bar Ermäßigung.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Im Inneren des Clubs gruppieren sich um die Tanzfläche hölzerne Sitznischen. Die Bänke sind mit dunkelrotem Kunstleder bezogen, dem man auch in diesem Dämmerlicht ansieht, dass es etwas durchgesessen ist. Es ist kurz vor Mitternacht und bisher tanzen nur ein paar Mädels. Über ihnen baumelt eine riesige Diskokugel, ansonsten sind Einrichtung und Beleuchtung eher karg, Dorfdisko-Standardausstattung. Aber die modischen Codes sind anders als in nicht-russischen Clubs: Pinker Lippenstift ist sehr in Mode, genau wie helmartige Fön-Frisuren. Die Jungs haben dicke Goldketten um den Hals, an denen meistens ein Kreuz baumelt, manchmal auch ein Ring. Immerhin: nur ganz wenige von ihnen tragen schwarze T-Shirts. Angesichts von Maschas Geschichte beruhigt mich das. Alles "tak sebje" Wir stellen uns an die Bar, um unseren ersten Papier-Dollar loszuwerden. Rundherum nur russisches Stimmengewühl, Deutsch kann man nirgends hören und auch aus den Boxen dröhnt russischer Pop. "Ja znaju schto ty sijtschas adna" - "Ich weiß, dass du gerade alleine bist", sülzt eine Männerstimme. Das ist Faktor 2, die gerade beliebteste russlanddeutsche Band. Sie besteht aus zwei Jungs Mitte 20, Ilja und Wladimir, beide in der sowjetischen Provinz geboren und in den 90er Jahre mit ihren Familien nach Deutschland gekommen. Sie singen über Heimweh, Bier und Sex und füllen damit in Deutschland Hallen. Inzwischen haben sie als Re-Import auch in Russland Fans. Im Avarija werden ihre Songs an diesem Abend fast ununterbrochen rauf- und runtergedudelt. Neben mir an der Bar steht ein Junge, er trägt eine Military-Hose und eine ballonseidene Adidas-Trainingsjacke in grün und lila und trinkt Bier. Er heißt Sascha, ist 23 und auf fast alle Fragen, die ich ihm stelle, antwortet er "tak sebje", was soviel heißt wie "geht so". Ob es ihm in Deutschland gefällt? "Tak sebje". Ob ihm Russland fehlt? "Tak sebje". Ob es schwer sei, Deutsch zu lernen? "Tak sebje". Ob das deutsche Bier gut schmecke? "Tak sebje". Vor zweieinhalb Jahren ist er mit seiner Frau, einer Russlanddeutschen, aus Kasachstan nach Kaufbeuren gekommen. Sie haben jung geheiratet und geglaubt, dass sie hier in ein tolles Leben starten, erzählt Sascha, aber er habe noch immer keine Arbeit gefunden. Er ist alleine im Avarija. Seine Frau ist zu Hause; die Ehe sei "tak sebje". Ob Sascha im Laufe des Abends noch tanzen wird und warum Michael, der einzige Deutsche im Avarija, in die Russendisko geht, liest du auf der nächsten Seite.


Saschas Blick schweift ab und bleibt an der Diskokugel hängen, die sich über der Tanzfläche dreht. "Ich trinke ein Bier, mit mir sind alle meine Freunde. Wir gammeln andauernd rum, scheißen auf alle Probleme. Ich trinke ein Bier, Russia mein Heimatland, irgendwo weit weg, ich möchte jetzt dorthin", singt Faktor 2. Sascha schaut so versunken, dass man sich nicht traut, ihm weiter Fragen zu stellen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Eines der tanzenden Mädchen fällt besonders auf. Sie trägt ein superkurzes weißes Kleid mit Rüschen. In ihrem Gesicht glitzert allerlei Glamour-Make-up und in ihrem platinblonden Haar steckt ein goldenes Diadem mit Glitzersteinchen. Wie eine Eisprinzessin sieht sie aus und um sie herum tanzt ein ganzer Schwarm Jungs. Als ich sie anspreche, ist sie sehr freundlich: Anna heißt sie, ist 18 Jahre alt und stammt ursprünglich auch aus Kasachstan. Jetzt macht sie eine Ausbildung zur Kindergärtnerin in Isny im Allgäu und kommt mindestens einmal pro Woche ins Avarija nach Marktoberdorf - hin und zurück sind das über 120 Kilometer. Aber der Weg lohne sich, sagt sie, hier sei es "super lustig", die Leute seien "voll nett" und die Jungs "super süß". Sie findet russische Männer besser als Deutsche. Warum? "Weil man Russisch mit ihnen sprechen kann!" Anna ist seit zehn Jahren hier und kann gut Deutsch, findet aber, dass man auf Deutsch nicht über Gefühle reden könne. Dann schwärmt sie von dem tollen Programm, das das Avarija seinen Gästen biete. Letzte Woche gab es eine Mini-Rock-Nacht, bei der alle Mädels mit Röcken, kürzer als 28 cm, einen Fünf-Euro-Getränkegutschein bekamen. Und bald wird die Miss-Avarija gewählt. "Avarija" bedeutet "Unfall". Miss Unfall klingt zwar nicht übertrieben schmeichelhaft, aber Anna würde trotzdem gerne gewinnen. "Aber es gibt hier soooo viele hübsche Mädchen!", sagt sie bescheiden und dann kommt ein Junge und zieht sie wieder auf die Tanzfläche. Mascha und ich gesellen uns zu den Türstehern. Hier, nahe am Ausgang, ist es ein bisschen ruhiger und weniger verraucht. Die bulligen Jungs, die uns beim Hereinkommen so eingeschüchtert haben, entpuppen sich als ausgesprochen höfliche Zeitgenossen. Sie siezen uns, gehen immerzu in die Knie, um die Fragen besser zu verstehen. Klar gebe es hier manchmal auch Ärger, sagt Wladimir. Er ist 26, kommt aus dem Nordkaukasus und ist seit zwölf Jahren in Deutschland. Als eine Gruppe neuer Gäste den Club betritt, begrüßt er jeden mit Handschlag. Das sei wichtig, erklärt er: "Wenn man eine Hand an einem Abend schon geschüttelt hat, ist es nicht so wahrscheinlich, dass man sie später in den Magen kriegt." Überhaupt sei Reden in seinem Job wichtig. "Wir sind wie Sozialarbeiter", bestätigt Wladimirs Kollege Sergej. "Es gibt Jungs und Mädels, die kommen, zahlen den Eintritt und hängen dann den ganzen Abend mit uns am Eingang rum." Sie reden über Liebeskummer. Über Heimweh. Darüber, wie schwer es ist, einen Job zu finden. Früher hat Wladimir in einem deutschen Club gearbeitet, aber die russische Mentalität sei ihm lieber: "Wenn ich einen packe und auf den Parkplatz transportiere, dann akzeptiert er es, weil ich bin die Security und vor mir hat man Respekt." Deutsche Schlägertypen seien aufmüpfiger. "Die sind eben nicht an Autorität gewöhnt", erklärt er. Ein einziger Deutscher: Michael Drei stark geschminkte Mädchen kommen herein und Wladimir fragt nach den "Passporty". Nach einem Zögern zücken die drei ihre Personalausweise, die zeigen, dass sie gerade erst 16 geworden sind. Ohne schriftliche Erlaubnis der Eltern kommen sie hier nicht rein. Das Formular gibt es auch auf Russisch, denn die meisten Gäste haben zwar einen deutschen Pass, aber viele haben Eltern, die nicht besonders gut Deutsch verstehen. Obwohl: "Einen echten Deutschen haben wir heute Abend sogar hier", sagt Wladimir und holt ihn aus dem Getümmel der 150 Tanzenden.

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Illustration: Julia Schubert

Michael trägt eine Nickelbrille, ein Muskelshirt und kommt ursprünglich aus Mecklenburg. Russisch hat er in der Schule gelernt, zumindest genug um sich hier ein bisschen zu verständigen. "Ty otschenj krasiwaja", du bist sehr schön und "adno piwo, paschalujsta", ein Bier, bitte. Michael schwärmt von der russischen Mentalität. Die sei ihm tausendmal lieber sei als die bayerische. "Die Bayern hängen einem wegen jedem Quatsch eine Klage an." Er habe da Erfahrungen gemacht, in einem anderen Club, wo es zu "kleinen Konflikten" gekommen sei. Wenn man hier Ärger mache, dann bekomme man vielleicht von Mann zu Mann eins auf die Fresse, aber keinen Prozess. Das sei ihm lieber. An diesem Abend bleibt es friedlich. "Du bist meine Einzige, wie in der Nacht der Mond, wie in der Steppe die Kiefer, wie im Jahr der Frühling", singt Faktor 2. Ein langsamer, ruhiger Song und alle beginnen Stehblues zu tanzen. Anna, die Eisprinzessin, schmiegt sich an einen Kerl in engem T-Shirt und auch Sascha, der traurige Junge von der Bar, tanzt. Schließlich holt ein Mädchen, das ein lila Glitzeroberteil und weiße Cowboystiefel trägt, Michael zum Tanzen. Er hält sie so vorsichtig im Arm, dass man sich kaum vorstellen kann, dass er jemals in eine Schlägerei verwickelt war. Fotos: privat

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