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Tagsüber Bank – abends Punk

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Die Gitarre hängt tief, Stefan Lachners Gesicht ist verzerrt, seine struppigen blonden Haare kleben durchgeschwitzt an der Stirn. Neben ihm steht Bassist Andreas Rammler, legt den Kopf in den Nacken und schreit. Gerade eben hat er einen riesigen Schluck Bier weit in die Luft gespuckt. Die Tröpfchen schimmern im Scheinwerferlicht. Sänger Florian Kropius spritzt das Nass bis ins Gesicht. Der singt auf eins, zwei, drei ,,I feel so empty, my own batteries need a recharge“. Das Publikum feiert, am Bühnenrand setzt sich ein Pulk in Bewegung. Wildes Geschubse, ein Junge springt von der Bühne, lässt sich von vielen Armen auffangen und über die Menge hinweg tragen. Samstagabend, die Musik ist laut und die Luft ist stickig.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Band heißt Scorefor, einer der erfolgreicheren bayerischen Punkexporte. In wenigen Stunden, wenn Montagfrüh um sieben der Wecker klingelt, werden die drei Musiker ihre abgewetzten Shirts, die ausgebeulten Cargo-Hosen und die ausgelatschten Turnschuhe gegen Anzug und Krawatte aus dem Katalog tauschen und in die Arbeit gehen. Vermutlich ahnt im Publikum niemand, dass der 27-Jährige, der so trotzig über seine leere Lebensbatterie singt, dann im Physikunterricht an der Tafel erklären wird, wie eine Batterie funktioniert. Oder dass Stefan und Andreas Geldanlagen verwalten. Die beiden sind Bankangestellte, Florian ist Lehrer. Ihre Platte „Three chord symphony“ zieren kleine Buttons mit Anarchiezeichen und Totenköpfen. Scorefor sehen darin keinen Widerspruch. Pöbeln im Backstagebereich „Niemand hat es zu interessieren, wo wir arbeiten,“ sagen sie. Ein Punker habe heute schließlich in der Regel genauso ein Bankkonto und einen Schulabschluss, wie Landwirte und Geschäftsleute. Außerdem „sind Banken gar nicht so spießig, wie man vielleicht denkt,“ sagt Stefan. In der ländlichen Sparkasse Bad Tölz, Geschäftsstelle Bichl, sei Lockerheit angesagt. „Hinter dem Schalter sind wir die gleichen Typen wie auf der Bühne“, versichert Andreas. Dass der freundliche junge Mann, der Konten eröffnet und Kredite vergibt, auf der Bühne den harten Rocker gibt, ist in und um Bad Tölz kein Geheimnis. Vorgesetzte, die sich über solche privaten Eskapaden aufregen, gibt es nicht, denn Andreas ist selbst der Chef. Der heutige Geschäftsstellenleiter war damals sogar dabei, als Stefan seine Ausbildung gemacht hat. Florian profitiert sowieso von seinem Image: Was kann sich ein 13-jähriger Schüler auch mehr wünschen, als einen Punker als Lehrer? Es gibt eigentlich nur einen Vollblutpunker in der Band: Schlagzeuger Jens Hoffmann. Der taucht zum Interviewtermin erst gar nicht auf. Weil er keinen Bock hat. Und selbst wenn er sich doch gelegentlich aufrafft, antwortet er auf Fragen immer nur mit einem abgehakten „Ja!“. Jens ist der, in den sich immer alle Mädchen verlieben. „Scheiß auf alles!“, ist sein Lieblingsspruch. Seine Bandkollegen findet er spießig. Wenn Scorefor auf großen Festivals spielen, beleidigt er im Backstage-Bereich die Chartmusiker. Scorefor sind mit ihrem Doppelleben weit gekommen. Drei Alben haben sie veröffentlicht, in wenigen Tagen bringen sie ihr Unplugged-Album raus. Jede Woche spielen sie deutschlandweit Konzerte. Sie tourten in den USA, Australien und Japan. Das Video zu dem Song „Where are the flowers“ lief in Rotation auf MTV Asia. Und ganz vorne im Club Asia in Tokio standen sie direkt vor der Bühne: ihre Ebenbilder. Anzugmenschen, die vom letzten Geschäftsmeeting auf das Scorefor-Konzert stürmten und sich im wilden Gedränge pogend und schwitzend die Seele aus dem Leib grölten. „In den 80-ern war das vielleicht anders, aber heute ist Punk doch absolut salonfähig geworden,“ sagt Andreas. In billigen Modeläden könne schließlich jedes Kind Nietenarmbänder und -gürtel kaufen. Der 29-Jährige arbeitet seit mehr als zehn Jahren bei der Sparkasse – genau so lange wie er bei Scorefor Bass spielt. Zuvor hatte er weder Ahnung von Harmonien noch von Bilanzen. Einen Nachmittag lang saß er an einem Berufsberatungscomputer im Arbeitsamt. Die Maschine schlug ihm nach fast einstündiger Befragung vor, Diätberater zu werden. Andreas fand das ziemlich albern – nicht nur, weil der Bayer der heimischen Küche sichtlich zugetan ist. Da bewarb er sich lieber bei der Bank. Ähnlich bei Sänger Florian: Er hätte nach seinem BIZ-Termin Totengräber werden sollen und wurde dann doch lieber Lehrer. Dass sie heute Punkmusik machen, hat wenig mit Überzeugung oder Lebenseinstellung zu tun. Scorefor fallen nicht aus der Reihe. Eigentlich sind sie vier gutbürgerliche junge Männer, die einfach gerne laute Gitarrenmusik mögen. Und sie deshalb spielen. Florian ging noch selbst zur Schule, als ihm die Platte „Bis zum bitteren Ende“ von den Toten Hosen in die Hände fiel. Das war die Initialzündung. Es wäre Mythenbildung zu erzählen, dass sich vor elf Jahren vier pubertierende Jungs gefunden hätten, denen die penetrante Kleinstadtidylle viel zu eng geworden ist. In Sachsenkam gibt es keine Prügeleien im Suff, keine Anarchiezeichen, die hastig an die Wand geschmiert werden. Steine, ja, davon gibt es viele, aber die Jungs von Scorefor schmeißen sie nicht. „Sollen wir etwa gegen Kühe revolutionieren“, fragt Andreas. Es gibt nicht einmal eine andere Band, mit der sich Scorefor hätten messen können. Wer in Sachsenkam ein Instrument spielt, der geht normalerweise in das dörfliche Blasorchester – keine Konkurrenz für eine aufstrebende Skatepunkband. Und eigentlich, finden Scorefor, ist an Blasmusik auch gar nichts auszusetzen. Punk im Elternhaus Stefan, Andreas und Florian sind zufrieden. Aus Sachsenkam wegzuziehen, käme für sie nicht in Frage. Nicht nur, weil ihre Freundinnen alle aus der Gegend sind und sie in festen Jobs stecken. Sondern, weil Sachsenkam das ist, was sie sich unter Leben vorstellen. Die weite Welt – davon sehen sie auf Touren und Konzerten genug. „Jahresurlaub“ nennen die Jungs von Scorefor das. Sie sind froh, wenn sie nach mehreren Wochen in ihrem gemütlichen Zuhause ankommen. Ob sie mit ihrer Band den großen Durchbruch haben werden, ist ihnen egal. Auch wenn sie immer wieder vor hunderten von Menschen stehen, die laut „Zugabe“ rufe: Sie sind glücklicher, wenn sie zu Hause auf einer sonnenüberfluteten Terrasse sitzen. „So ist das bei Kindern vom Land“, sagt Stefan. Scorefor spielte schon im legendären CBGB’s in New York, ihr Probenraum ist trotzdem noch im muffigen Keller von Stefans Elternhaus – wie damals zu Schulzeiten. Nur, dass der Raum mittlerweile mit Konzertplakaten tapeziert ist und sich Merchandise-Artikel und riesige Transportkisten voller Equipment stapeln. Ob der Lärm die Familie nicht stört? Stefan grinst, wie er es wohl schon als 16-Jähriger getan hat. „Schon“, sagt er. Mehr nicht. Liebende Eltern ignorieren wummernde Bässe und Schlagzeugdonner zur Tagesschauzeit wohlwollend – auch wenn die Kinder fast dreißig sind. Schließlich habe sie es ja auch zu was gebracht. Diese Text wurde auf der Landkreis-Jugendseite der SZ veröffentlicht.

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