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Vergewaltigung ist so ein hässliches Wort

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Immer wieder gibt es auf jetzt.de Beiträge, die besonders berühren. Neulich veröffentlichte ein_oxymoron den Text Vergewaltigung ist so ein hässliches Wort und löste eine große Debatte aus. Fast 600 mal wurde der Text von anderen Lesern kommentiert, weil sie Vorfälle beschreibt, die so vermutlich schon viele Mädchen und auch Jungs erlebt haben. Situationen, die irgendwo im Graubereich zwischen Vergewaltigung und Sex angesiedelt sind. Für jetzt.de las der Sexualpädagoge Sebastian Kempf, 43, von Pro Familia München den Text und versuchte sich an einer Einordnung des Phänomens.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

jetzt.de: Herr Kempf, Sie haben den Text von ein_oxymoron gelesen. Welchen Eindruck hat er auf sie gemacht? Sebastian Kempf: Mein erster Eindruck war, dass das realistische Situationen sind, die im Leben von jungen Erwachsenen passieren können. Mir ist aufgefallen, dass diese vier Situationen sehr unterschiedlich sind. Bei den ersten beiden hat sich die Frau erfolgreich gewehrt und eine Taktik gewählt, die funktioniert. Im dritten und vierten Fall passiert dann doch etwas, und trotzdem finde ich, dass es in beiden Fällen der Begriff „Vergewaltigung“ nicht trifft. jetzt.de: Die Selbstvorwürfe, die in dem Text vorkommen, diese Fragen „War ich deutlich genug?“ – „Habe ich mich zu wenig gewehrt“ – woher kommen die ? Kempf: Selbstvorwürfe können auftauchen, wenn jemandem sexuelle Gewalt angetan worden ist. Das hat mit der Scham zu tun und mit der Frage: Wie konnte ich zulassen, dass mir so etwas passiert? Das hängt mit der psychischen Grundstruktur des Menschen zusammen und damit, dass es für niemanden angenehm ist, Opfer zu sein. „Opfer“ ist ja nicht umsonst eines der neuen und beliebtesten Schimpfwörter unter Jugendlichen. Obwohl zum Beispiel 30 Prozent aller Jungs zwischen 17 und 20 schon einmal Opfer sexueller Übergriffe wurden, reden da die wenigsten darüber oder gehen zu einer Beratungsstelle. Es passt überhaupt nicht zu ihrem Bild von Männlichkeit, dass ihnen etwas angetan wurde und sie sich nicht wehren konnten. jetzt.de: Die Protagonistin in dem Text übernimmt nicht nur die Verantwortung für ihre eigene Sexualität, sondern auch für die des Jungen. Warum? Kempf: Frauen sind eher darauf gepolt, die soziale Verantwortung für das Gelingen einer Beziehung zu übernehmen. Das lernen schon kleine Kinder in ihrer Familie. Da ist die Mutter auch für all das verantwortlich – Streit schlichten, Geburtstagsgeschenke besorgen, Freunde einladen. Da hat sich bis heute noch nicht wahnsinnig viel geändert. Das spiegelt sich ja auch in dem Text: In der vierten Geschichte heult der Junge hinterher und es endet damit, dass sie ihn in den Arm nimmt. Beide sind völlig fertig nach dem, was passiert ist, und trotzdem schafft sie es, ihn auch noch zu trösten. jetzt.de: Können Sie aus der Perspektive der Jungs sagen, was da passiert ist? Kempf: Mein Eindruck ist, dass sie ausloten und testen wollen, was geht. Bei allen vier Fällen befinden sie sich in Ausgangssituationen, die für diese jungen Männer nahelegen, dass noch mehr passieren könnte. Ich finde es auch okay, sich das zu wünschen, zu fragen, oder es körperlich zu signalisieren. Aber wenn sie dann eine klare Botschaft sendet, dass sie das nicht will, muss Schluss sein. Ich finde, man tut der Sexualität unrecht, wenn man sagt, dass es nur zwei Arten von Sex gäbe: Nämlich entweder der von beiden Seiten gewollte und hundertprozentige, einvernehmliche oder der gewaltsame, eine Vergewaltigung. Es gibt auch Grauzonen. Es gibt Verführung und es muss auch nicht immer nur die Frau sein, die überzeugt wird. Wenn man diese Seite der Sexualität, die auch etwas mit Überredung und Schmeicheln und vorsichtigen Grenzüberschreitungen zu tun hat, verneint, dann macht man Sexualität zu einer klinisch reinen Sache und das ist sie einfach nicht. Wenn nicht irgendwann mal einer den ersten Schritt macht und sagt: „Wie wäre es denn jetzt?“, dann würde oft überhaupt nichts passieren. Aber es ist absolut nicht okay, wenn man nicht sofort aufhört, obwohl der andere „Stop“ gesagt hat. Interessant ist bei dem Text: In den Fällen, wo sie das Nein sehr laut sagt, da wirkt es. Mit einer ganz klaren Botschaft kommt sie durch. jetzt.de: Vergewaltigung will sie all diese Fälle nicht nennen und Sie scheuen auch vor diesem Wort auch zurück. Was ist es denn dann? Kempf: Ich würde es versuchte oder durchgeführte Grenzüberschreitungen nennen. Die Frage der Definition ist natürlich heikel. Das deutsche Recht sagt, Vergewaltigung ist es vor allem dann, wenn es um ein Eindringen in den Körper des oder der anderen geht. Aber andere sexuelle Handlungen können sexuelle Nötigungen sein und entsprechend als Straftatbestand gelten. Es fällt mir schwer, diese Erlebnisse in eindeutige Schubladen zu stecken. Die heikelste Situation ist die vierte Geschichte, weil sie die Beziehung, die sie vorher hatten, nicht auf’s Spiel setzen will. Da stellt sich die Frage, ob man ihm das vorwerfen soll, dass er sich nicht im Griff hat. Es ist nicht okay, was er gemacht hat. Aber, und da tue ich mich sehr schwer, weil ich weiß, dass das politisch und feministisch sehr umstritten ist: Mein Eindruck ist, sie hätte in all den Situationen die Chance gehabt, aufzustehen und zu gehen. jetzt.de: Warum ist das heikel? Kempf: Wenn man als Mann sagt: Das ist keine Vergewaltigung, dann kriegt man von Frauen gesagt, dass man etwas kleinredet, was eindeutige Gewalt ist. jetzt.de: Sollte man solchen Situationen einen Namen geben? Kempf: Man muss es nicht definieren. Man muss sagen: Es gibt Sachen, die unglücklich gelaufen sind. Sehr unglücklich gelaufen ist, dass er nicht aufgehört hat und dass er wohl einen solchen sexuellen Notstand hat, dass er seine WG, die Freundschaft auf’s Spiel setzt. Aber ob man es in die Schublade „Vergewaltigung“ stecken muss, das glaube ich nicht. Die Autorin will das ja auch nicht. jetzt.de: In den USA hat die Journalistin Laura Sessions Step für Vorfälle wie diese den Begriff „Gray Rape“ geprägt. Das hat für Diskussionen gesorgt. Ihr wurde unter anderem vorgeworfen, dass sie mit diesem Begriff den Tatbestand einer Vergewaltigung abstuft und insofern auch marginalisiert. Kempf: Man kann so denken. Aber die Frage ist, ob man da nicht auch zu schwarz-weiß malt und sagt, alle Männer sind potentielle Vergewaltiger. Und bei dieser Diskussion wird überhaupt nicht mit einbezogen, dass es auch sexuelle Übergriffe von Frauen auf Männer gibt. Das kommt nicht oft vor, aber es passiert. Wenn man diese „Das ist Vergewaltigung und Schluss“-Linie zieht, dann betrachtet man die Sache zu eindimensional. jetzt.de: Laura Sessions-Step hat in ihrem Artikel auch einen Zusammenhang hergestellt zwischen der Tatsache, dass Frauen heute selbstbestimmter ihre Sexualität ausleben – dass sie One-Night-Stands haben und nicht ausschließlich auf der Suche nach festen Beziehungen sind – und der Zunahme solcher Vorfälle. Kempf: Das finde ich ganz heikel, weil Frauen so in die Rolle zurückgedrängt werden, dass sie zu warten haben, bis sie angequatscht werden. Überspitzt könnte man da auch sagen, dass Frauen keine Miniröcke tragen sollten, weil sie sonst vergewaltigt werden könnten. jetzt.de: Woran liegt es, dass dieses Thema in Deutschland nicht so präsent ist? Kempf: Das liegt daran, dass es in den USA Regeln fürs Dating gibt: Nach dem zweiten Mal Essen gehen darf er offiziell fragen, ob sie mit ihm schläft; sie kann ihn abblitzen lassen, indem sie ihn genau dreimal nicht zurückruft. Da wird ein Bereich verregelt, bei dem es eigentlich nicht möglich oder zumindest schwierig ist. Diese Dating-Regeln gibt es bei uns nicht. Und es gibt bei uns auch nicht die Abstinenz-Ideologie, die in den USA den Teenagern eingeimpft wird. Und wenn die dann in Situationen geraten, wo sie eben doch Sex haben wollen, kennen sie sich weder mit Verhütung aus, noch wurde ihnen beigebracht, wie sie mit ihrer Sexualität umgehen können. jetzt.de: Könnten Sie denn eine Empfehlung geben, wie man sich in Situationen, wie sie in dem Text beschrieben sind, verhalten sollte? Kempf: Ich finde das ganz schwer. In den ersten beiden Situationen hat sie es klar kommuniziert und das hat geklappt. Bei der letzten Situation finde ich es sehr schwer, einen Rat zu geben. Wenn man sagt, „setze ein eindeutiges Signal oder verlasse das Zimmer“, dann schiebt man ihr wieder den größeren Teil der Verantwortung zu. Es ist auch wichtig, zu ihm zu sagen: „Typ, jetzt kapier’ doch bitte, wann es zu viel wird.“ Deshalb hat die Geschichte mich auch sehr berührt, weil klar ist, dass beide merken, wie scheiße das gelaufen ist. Er kapiert es zu spät, aber wenigstens kapiert er es.

Text: christina-waechter - Foto: zettberlin/photocase.de

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