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Vergoldete Stromschnellen

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Neulich war die elektronische Welt schwer niedergeschlagen. 'R.I.P. Steve Jobs!', twitterte es aus allen Winkeln des Webs, man kondolierte seinem Computer und die Apple-Stores hatten Vorhänge vor den Schaufenstern, als wären sie Tabernakel. Im Falle derart flächendeckender Gemütstrübung gibt es derzeit nur eine Band, die weltweit für ebenso authentisch wie passend erachtet wird. Folgerichtig spielte bei der Gedenkveranstaltung für die Apple-Mitarbeiter in Cupertino Coldplay ein Konzert, die britische Band mit den schönen Balladen und den Falsett-Refrains.

Apple und Coldplay haben eigentlich vieles gemeinsam, allen voran die ehemals lässige urbane Zielgruppe zwischen zwanzig und fünfzig. Sie teilen sich die Attribute 'sauber' und 'verlässlich' und erlebten beide in den letzten zehn Jahren ihren Aufstieg zum Marktführer. Hier wie dort wollen Fans regelmäßig mit neuen Produkten bei Laune gehalten werden, nur muss Chris Martin, der mäßig charismatische Sänger von Coldplay, die Produktentwicklung immer noch mit seinen drei Bandkollegen und weitgehend - glaubt man Produzent Brian Eno - ohne Zulieferer bestreiten.

Bisher hat das gut geklappt, jedes Coldplay-Album verkaufte sich großartig, jede Welttournee war ausgedehnter, ausverkaufter. Heute, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ihres fünften Albums 'Mylo Xyloto' darf die Band als der einzig wahre Nachwuchs in der U2-Liga gelten. Was von Coldplay an diesem Punkt der Erfolgsparabel erwartet wird, ist radiotauglicher Softrock, ebenso tief erbaulich wie leicht verdaulich. Songs, die als pathetisches Soundbett für den TV-Zusammenschnitt eines Premier-League-Spieltages taugen. Neues Material für ihre Auftritte in Glastonbury, bei denen dann auch diejenigen andächtig die Arme schwenken werden, die sich niemals eine Coldplay-Platte kaufen würden. Kurz: Die sollen Hymnen liefern.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Wie kein anderes Volk verlangt es die britische Insel ja nach Pophymnen, vermutlich weil sie sich so gut im Fußballstadion mitgrölen lassen und dabei jenes kurze klassenübergreifende Moment erzeugen, für das die Briten bisweilen so empfänglich sind - zumindest die viereinhalb Minuten lang, die eine gute Hymne dauern muss. Gitarrenlastige Hymnen sind sakrosanktes Volksgut im Popland. Es müssen erhabene Musikstücke sein, nicht zu traurig, nicht zu rockig, keinesfalls verkopft, deswegen haben zum Beispiel Radiohead diese Sehnsucht ihrer Landsleute nie richtig erfüllt.

Hymnen waren die Säulen, auf denen der Erfolg des Britpop stand, angefangen beim unvergänglichen 'Sit Down' von James, über 'Wonderwall' von Oasis, 'Bitter Sweet Symphony' von The Verve bis hin zur Musterhymne 'Why does it always rain on me' von Travis, jener nahezu vergessenen schottischen Band, die als direkter Passgeber für Coldplay gilt.

Die nun hatten das Epische von Anfang an als wichtigsten Bestandteil ihrer Band-DNA, waren quasi instant-hymnisch und pflegten dieses Talent durch die Nullerjahre, einem Jahrzehnt, in dem die angelsächsische Pophymne sonst keine besonders starke Lobby hatte. Maßgeblich war dabei immer der sich überschlagende Gesang Martins, der zwar das Mitgrölen erschwerte, dafür umso zuverlässiger Zerbrechlichkeit und eben hymnische Empfindsamkeit symbolisieren konnte, sogar auf Stadionbühnen.

Seine sympathischen Klagelaute plus viel 'Huiiiii-huuuu!', dazu sanft dengelnde Gitarren und hallende Pianos - das Leben 'according to Coldplay' war bisher ein eher ruhiger Märchenfluss mit wenigen, vergoldeten Stromschnellen. Umso tollkühner wirkt das erste Stücke der neuen Platte, das rasanter ist als alles zuvor, regelrechter Powerpop der auf den Namen 'Hurts Like Heaven' hört. Hoppla, denkt man da noch, um vom kirchenorgelnden Nachfolger gleich eines Besseren belehrt zu werden. Da sind sie wieder, die Himmelsgeigen und der romantische Leierkasten den Chris Martin an Kopfes statt mit sich herumträgt. Nicht zu verachten sind aber auch hier elektronische Sequenzen und andere leicht unartige Sperenzchen, die auf der ganzen Platte eingestreut wurden und insgesamt durchaus eine neue Art von musikalischer Wendigkeit im Coldplay-Gesamtwerk darstellen. Das Ganze wurde als Konzeptalbum angekündigt, allerdings sehr vorsichtig, damit niemand davon abgeschreckt wird. Das darf man getrost vergessen, denn der rote Faden, den die Songs bilden sollen, ist reichlich blass, wie auch die Texte traditionell kaum über menschelnde Kalenderweisheiten vom Schlage 'Every Teardrop Is A Waterfall' hinauskommen. Aber irgendwas ist schon anders, diesmal. Es finden sich ungewöhnlich viele Instrumentalabschnitte und etliche Songs, in denen sich die Band Coldplay anstrengt, nicht wie die Band Coldplay zu klingen. Manches wie 'Major Minus' ist dabei reichlich mies geraten, anderes, wie die Zusammenarbeit mit Rihanna bei 'Princess Of China', hat überraschenden Unterhaltungswert.

Grundsätzlich scheint sich Chris Martin diesmal eher vom US-Synthpop inspirieren zu lassen als von der alten Travis-Gitarre. Aber er soll ja auch Taufpate des Kindes von Jay Z und Beyoncé werden, da kann ein bisschen musikalisches Bling nicht schaden. Was die Hymnen betrifft, sieht es auf Plattenlänge eher mau aus, zu verdruckst das eine, zu Halligalli das andere. Falls der Grund dafür mangelndes Anschauungsmaterial gewesen sein sollte, sei den Coldplay-Jungs an dieser Stelle ein eingehendes Studium der neuen Soloplatte von Noel Gallagher empfohlen.

Darauf präsentiert der nettere der beiden Oasis-Brüder Lied für Lied lupenreines Hymnenmaterial, so geballt, dass es fast albern wirkt: Gitarre, Refrain, eine Überdosis Pathos. Es geht also noch, auch 2011. Warum er dergleichen nicht gebracht hat, als seine Band Oasis magenkrank vor sich hin darbte, bleibt Noels Geheimnis. Die Briten jedenfalls dürften den halbverlorenen Sohn damit wieder ins Herz schließen und bis hinunter nach Benidorm am Radio eine Träne verdrücken - nostalgischer wird sie keiner mehr an die gute Zeit von 'Cool Britannia' erinnern.

Und Coldplays Hymnenhemmung? Die ist vielleicht sogar klug, denn erstens haben die Briten vom gutmenschelnden Veganer Chris Martin derzeit ein bisschen die Nase voll und könnten ihm eine weitere kieksende Dauerrotation vielleicht übelnehmen. Zweitens zeigt die jüngere Popgeschichte doch, dass die Hymnenbands allesamt recht zeitig untergingen. Um weiterzuleben und sich ein bisschen ins Offene zu spielen, ist 'Mylo Xyloto' ein durchaus brauchbarer Schachzug.

Sicher hat es nicht die erneuernde Strahlkraft von U2s 'Achtung Baby', vielmehr vertagt es die Entscheidung, wie es mit Coldplay weitergehen soll. Aber eine zu krampfhafte Neujustierung kann eine Band unter solchem Erwartungsdruck eben durchaus Kopf und Kragen kosten - und im Falle eines Goldesels wie Coldplay damit wohl dem ganzen ehrwürdigen Parlorphone-Label.

Das wird es nicht, dafür hat der brave Chris Martin gesorgt, es finden sich zwischen den Experimenten genug Stücke, die zumindest die Stammklientel zufriedenstellen werden. Fröhliches Pop-Belcanto bei 'Charlie Brown' zum Beispiel und dazu einige hübsche Balladen. Zu denen lässt sich gelegentlich auch sicher wieder eine Ikone der Jugend zu Grabe tragen.

Text: max-scharnigg - Bild: Felipe Dana / AP /dapd

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