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Verhinderte Autonomie

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Die Münchner Psychotherapeutin Dr. Gabriele Goecke-Hoyer arbeitet regelmäßig mit jungen Erwachsenen, die sich auf dem Weg in die Selbstständigkeit und auf der Schwelle zum Erwachsenwerden befinden.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


jetzt.de: Frau Goecke-Hoyer, täuscht der Eindruck, dass sich immer mehr Eltern immer länger um ihre Kinder kümmern?
Goecke-Hoyer: Nein, ich mache bei meinen Patienten immer wieder die Beobachtung, dass das tatsächlich der Fall ist. Ich denke, das ist auch durch den sozialen Background bedingt. Zum Beispiel werden in Akademiker-Familien die Kinder manchmal bis zum Examen begleitet und umsorgt. Wobei manche Eltern es vielleicht einfach nicht anders kennen – schließlich kommen sie selbst aus einer Generation, in der man erst mit 21 Jahren volljährig war. Die Eltern hatten dadurch zwangsläufig länger und wesentlich mehr Einfluss auf Entscheidungen.
 
jetzt.de: Gibt es noch andere Gründe für die Überfürsorge?
Goecke-Hoyer: Ich denke vor allem, dass es den Eltern schwer fällt, ihre Kinder gehen zu lassen. Nicht nur die jungen Erwachsenen müssen sich abnabeln, auch die Eltern müssen sich gewissermaßen von ihren Kindern trennen. Indem sie weiterhin Einfluss nehmen, binden sie die Heranwachsenden noch länger an sich. Außerdem glaube ich, dass Eltern ihren Kindern heutzutage möglichst viel bieten und ihnen die besten Startmöglichkeiten geben wollen. Im Vergleich zu früheren Generationen gibt es immer weniger kinderreiche Familien, sodass Eltern mit nur einem oder zwei Kindern vermutlich stärker dazu tendieren.
 
jetzt.de: Ist die Unterstützung bei der Wohnungssuche oder im Studium denn gut oder stört sie die Entwicklung zur Selbstständigkeit?
Goecke-Hoyer: Natürlich ist es sinnvoll, wenn Eltern ihre Kinder unterstützen und fördern. Es ist jedoch nicht gut, ihnen alles abzunehmen und die lebenspraktischen Entscheidungen nicht selbst zu überlassen. Jeder Heranwachsende muss lernen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Was ein angehender Student selbst tun kann, sollte ihm nicht abgenommen werden. Schließlich stärkt so etwas auch das Selbstvertrauen und fördert die Autonomie. Die Eltern sollten sich im Hintergrund halten und signalisieren, dass sie für ihre Kinder da sind. Sie sollten einfach warten, bis diese sie explizit um Hilfe bitten, weil sie an einem bestimmten Punkt nicht weiter kommen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Dr. Gabriele Goecke-Hoyer

jetzt.de: Gibt es Eltern, die ihren Kindern die Hilfe aufdrängen?
Goecke-Hoyer: In Extremfällen realisieren die Eltern gar nicht, dass ihr Kind schon selbstständiger ist, als sie denken. Sie reagieren dann überfürsorglich und achten gar nicht auf die Wünsche und Entscheidungen des Kindes. Im Gegensatz dazu gibt es natürlich auch massive Vernachlässigung und Mangel an Interesse und Anteilnahme, wenn ein Kind vollkommen im Stich gelassen und mit seinen Problemen alleine gelassen wird.
 
jetzt.de: Welche Folgen kann es haben, wenn sich Eltern zu sehr einmischen?
Goecke-Hoyer: Einige Eltern nehmen ihrem Kind bis zum akademischen Abschluss jede Aufgabe ab und lösen jedes seiner Probleme. Dann kann es tatsächlich passieren, dass ein ehemaliger Student oder die Studentin ins Berufsleben tritt und zunächst überfordert ist. Jemandem, der immer Motivation von außen erfahren hat, fällt es schwer, diese von selbst aufzubauen. Dies kann sich darin äußern, dass der Studienabsolvent Probleme bei seiner Alltagsbewältigung hat, wie zum Beispiel bei der inhaltlichen Strukturierung und der Zeiteinteilung.



Text: verena-kuhlmann - Foto: privat

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