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Am Donnerstag ist Snowboarden ein Stück erwachsener geworden. Um 7 Uhr Mitteleuropäischer Zeit drehte Billy Morgan die Spitze seines Snowboards Richtung Tal und fuhr los. Er eröffnete damit den ersten olympischen Slopestyle-Wettkampf, diese Disziplin ist neu bei den Spielen. 16 Jahre nach der Halfpipe-Premiere in Nagano werden auch in der zweitwichtigsten Freestyle-Disziplin des Snowboardens Medaillen vergeben.

Man sollte meinen, dass die Snowboardszene mit einhelliger Freude reagiert, wenn ihre ehemalige Randsportart bei einem Weltereignis wie Olympia mehr Raum bekommt. Aber das war nicht so. Wie das eben so ist beim Erwachsenwerden: Das Leben wird komplizierter. Deshalb waren da auch Unzufriedenheit, Wut und Hoffnung. Je nach Blickwinkel.

Ethan Morgan, 22, dunkle Haare, Kapuzenpulli, ist Profi. Er war am Donnerstag nicht in Sotschi. Ein paar Tage vor Beginn der Spiele ist er nach Stockholm geflogen, um sich dort filmen zu lassen. Ethan hat seinen ersten Sponsor vor zehn Jahren bekommen, inzwischen kann er davon leben, durch die Welt zu reisen, Aufnahmen für Filmprojekte zu machen und zwischendurch bei Contests mitzufahren. Aber die sind momentan nicht seine Priorität. Die Olympiaqualifikation hat er nicht geschafft. Ende Januar, auf der Wintersportmesse Ispo, blickt er nicht sonderlich traurig unter seiner Kapuze hervor, als er davon erzählt. Er ist froh, dass er nach Stockholm fliegen kann. Denn was er bei Contests sieht – bei Olympia und bei vielen anderen – , langweilt ihn. Er ist unzufrieden, in welche Richtung sich sein Sport entwickelt hat. Und das will er ändern.

Die Stilfrage

Ethan begann mit dem Snowboarden, nachdem er im Fernsehen die olympischen Spiele in Salt Lake City gesehen hatte. Er sah den Finnen Heikki Sorsa mit aufgestelltem Irokesenkamm in die Halfpipe droppen. „Jeder Fahrer hatte seinen eigenen Style, jeder Run war anders“, sagt Ethan. Er denkt kurz nach. Dann sagt er: „Ich weiß nicht, ob mich das, was man heute bei Olympia sieht, motivieren würde.“

Das technische Level, auf dem die Profis heute fahren, ist unglaublich. Beispiel Slopestyle: Um einen solchen Contest zu gewinnen, muss man heute mehrere Varianten von Tricks beherrschen, die sich „Triple Cork“ nennen: Drei oder vierfache Rotationen um die Körperlängsachse, bei denen man sich zusätzlich noch drei Mal in eine Überkopfposition begibt. Den meisten Menschen fällt es schwer, diese Tricks überhaupt zu begreifen, sie auszuführen ist technisch und athletisch extrem anspruchsvoll. Wer das erreichen will, muss trainieren wie ein Kunstturner, auf dem Trampolin und im Fitnessstudio. „Ich habe höchsten Respekt vor den Jungs, die diese Tricks machen“, sagt Ethan. „Aber es entspricht nicht dem, was ich – und viele andere Fahrer, mit denen ich geredet habe – beim Snowboarden faszinierend finden: Kreativität und Style.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ethan Morgan wünscht sich mehr Abwechslung im Contestsnowboarden

Er hat sich deshalb kürzlich in einem Artikel im Magazin Onboard an die Szene gewandt, zusammen mit dem US-Profi Sage Kotsenburg. Der hat am Samstag bei Olympia die Goldmedaille im Slopestyle geholt, aber selbst er findet, dass gerade einiges falsch läuft.  „The Death of Style in Contest Snowboarding“ ist der Text der beiden überschrieben. Die Tricks bei den Contests sähen alle gleich aus, die Snowboarder glichen „Fleischbällchen, die sich durch die Luft drehen“. Nach der Landung reißen manche die Arme nach oben, damit die Kampfrichter sehen, dass sie sich nicht auf dem Boden abgestützt haben. „Das erinnert mich ans Trickskifahren“, sagt Ethan. „Und das ist ein Sport, über den sich Snowboarder mal lustig gemacht haben, weil es nur darum geht, wer die meisten Rotationen in einen Sprung pressen kann.“ Spin to Win nennen viele in der Szene das mit abfälligem Unterton – in Abgrenzung zu Sprüngen, bei denen man die Grabs variiert, den vorgegeben Kurs auch mal auf unkonventionelle Weise fährt und etwas Unerwartetes macht, das vielleicht technisch einfacher ist, aber viel Style hat, Individualität erkennen lässt und überrascht.

Snowboarden hat sich als Wettkampfsport in den vergangenen Jahren so schnell weiterentwickelt, dass keine Zeit blieb, darüber nachzudenken, ob alle diese Entwicklungen befürworten. „Viele wünschen sich mehr Kreativität und sind unzufrieden“, sagt Ethan. Aber sie äußern ihre Unzufriedenheit nicht. Manche der Top-Fahrer sind erst 16, in dem Alter stellt man sich nicht bei einem großen Contest hin und sagt, dass einem etwas nicht passt. Zumindest nicht alleine. Es könnte aber sein, dass der Aufruf von Ethan Morgan und Sage Kotsenburg Bewegung auslöst, dass die Snowboarder mehr darüber diskutieren, wohin sich ihr Sport eigentlich bewegen soll. Und es dann auch sagen.

Das Rebellentum

Snowboarden hat ein Mittelfingerproblem. Der erhobene Mittelfinger war lange ein wichtiger Grund für den Erfolg des Snowboardens. Die Sportart wurde groß, weil sie sich über den Mittelfinger definierte. Bene Heimstädt ist Chef von Pleasure, Deutschlands größtem Snowboardmagazin, er hat es mit zwei Freunden in den Neunzigern gegründet, als Snowboarden seine große Hype-Phase hatte. „Das war die Jugendkultur, die rebellierte“, sagt er. „Gegen die Skifahrer mit ihren Stangenslaloms und Wettrennen, gegen die konservativen Skigebiete, die uns Snowboardern das Fahren verbieten wollten.“ Snowboarden hieß: Freiheit statt Regeln, feiernde Profis statt Vorbildathleten, die früh ins Bett gehen, Subkultur statt Massenbewegung.

Mittlerweile bemühen sich Skigebiete um Snowboarder und bauen riesige Snowparks. Die Skiindustrie hat ihre Lektion gelernt und sich angepasst, sie erzählt längst dieselbe Geschichte von Freiheit und Freestyle, stellt die gleichen weiten Hosen her. Snowboarden ist bei Olympia und im Fernsehen angekommen. Wem soll man noch den Mittelfinger entgegenstrecken? Und worüber soll sich Snowboarden jetzt definieren, wenn die Rebellengeschichte nicht mehr zieht? Über die Profis bei Olympia?


Der verhasste Superstar

Der berühmteste dieser Profis ist Shaun White. Er ist der Superstar des Sports – und an ihm wird ein weiteres Dilemma deutlich: Die Subkultur Snowboarden hat sich etabliert und ist Mainstream geworden. Gleichzeitig fürchtet und hasst die Szene aber nichts mehr als diesen Mainstream.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Shaun White, millionenschwer, aber umstritten in der Szene

Eigentlich sollte Shaun White beim Slopestyle-Contest in Sotschi mitfahren. Aber nach den Testläufen sagte er seine Teilnahme ab, weniger als 24 Stunden vor Beginn des Wettkampfs. Das Verletzungsrisiko sei ihm zu groß, er wolle sich lieber auf seine Paradedisziplin Halfpipe konzentrieren. Eine Steilvorlage für die Snowboarder, die White hassen. Und davon gibt es viele.

Shaun White, 27, ist Millionär mit hochlukrativen Werbeverträgen und eigenem Markenimperium. In den USA kennt ihn jedes Kind aus der Kaugummiwerbung. Als er das letzte Mal olympisches Gold holte, wurde er von Bloomberg auf Platz zwei der Liste der hundert einflussreichsten Sportler der Welt gewählt. Genau das ist aber das Problem. Shaun White hat mit der Szene nichts zu tun. Er braucht keine eingeschworene Gemeinschaft, in der alle beste Freunde sind und sich mit High Five begrüßen. Er ist von Ehrgeiz getrieben. Er fährt zu Contests, gewinnt sie und verschwindet wieder. Als er 15 war, wollten die Fahrer bei einem Contest das Preisgeld untereinander aufteilen. Shaun White machte nicht mit. Er gewann und nahm die 50 000 Dollar. Auf die Spiele in Vancouver bereitete er sich in einer privaten Halfpipe vor, die sein Sponsor für ihn gebaut hatte. Andere Fahrer einzuladen, kam ihm nicht in den Sinn.

Geschichten wie diese werden ihm nachgetragen. Er verdient mit Snowboarden eine Menge Geld, gibt dem Sport aber nichts zurück, heißt es. Dass er sich jetzt aus dem Slopestyle zurückzieht, passt seinen Kritikern ins Bild des Szene-Verräters. White habe Angst, nicht zu gewinnen. Und er sei ein Egoist: Weil er so spät absagte, konnte niemand anders mehr nachnominiert werden.

Dabei sah es gerade so aus, als hätte White begriffen. Seit Januar ist er Mehrheitseigentümer des Air&Style, damit ist er jetzt Herr über den bekanntesten Snowboardcontests Europas. Shaun White hat die Mittel, aus dem Innsbrucker Event ein Riesenspektakel zu machen, ein Festival, das Maßstäbe setzt. In der Szene wurde die Nachricht größtenteils positiv aufgenommen. Vielleicht würde er jetzt sein Geld einsetzen, um etwas für den Sport zu tun, dachten viele. Dieser Bonus ist jetzt erst mal wieder verspielt. Und egal, was er aus dem Air&Style macht – irgendwer wird sich darüber beschweren, dass das bloßer Kommerz ist.


Der böse Skiverband

Beim ersten Trainingslauf auf dem Slopestyle-Kurs in Sotschi gab es einen Unfall. Der Norweger Torstein Horgmo stürzte und krachte auf eines der Rails – Schlüsselbeinbruch. Einige Fahrer beschwerten sich, der Kurs sei zu gefährlich. Die Verantwortlichen verkleinerten die Schanzen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass nach den ersten Trainingsläufen auf Wunsch der Fahrer Verbesserungen vorgenommen werden. Aber auf Facebook teilten viele Menschen, die sich als passionierte Snowboarder verstehen, die Meldung über Horgmos Verletzung – versehen mit wüsten Beschimpfungen in Richtung der FIS, des internationalen Skiverbands. War ja klar, dass die das nicht hinkriegen, so der Tenor der Kommentare. Denn wenn es noch ein Mittelfingerthema gibt im Snowboarden, dann ist es die FIS.

Der Hintergrund ist ein quasi ewiger Streit, der Ende der Neunzigerjahre begann, als Snowboarden olympisch wurde. Seit das olympische Komitee, das IOC, die junge Trendsportart 1998 zum ersten Mal zuließ und in Nagano Medaillen in der Halfpipe vergab, werden die Wettkämpfe von der FIS ausgerichtet. Über deren Contestserie müssen sich die Fahrer auch für Olympia qualifizieren.

Das bringt die Snowboardszene regelmäßig in Unruhe. Dass ihre Wettkämpfe in der Hand von Skifahrern liegen, passt den wenigsten Snowboardern. In einer normalen Saison ist den meisten Profis die FIS-Weltcupserie herzlich egal. Sie fahren lieber bei anderen Contests mit: bei denen, die aus der Szene selbst entstanden sind und sich unter dem Dach der „Ticket to Ride World Snowboard Tour“ (TTR) vereinigt haben. Nur vor Olympia ist das anders. Wer da mitfahren will, muss an den FIS-Events teilnehmen.

Einer, der das nie wollte, ist der Norweger Terje Haakonsen. Er hat die TTR gegründet, als Gegenentwurf zur FIS. Ende der Neunziger war er mit Abstand der beste Fahrer der Welt, vor allem in der Halfpipe. Er war das prägende Idol der Szene. Als Snowboarden olympisch wurde, sagte er: Nein danke. Machte einfach nicht mit. Ließ eine quasi sichere Goldmedaille links liegen, weil er der Meinung war, Snowboarden sollte in der Hand von Snowboardern bleiben und passe sowieso nicht zu einer Denkweise, in der es Nationalmannschaften gibt und Länder auf einer Medaillenrangliste ganz oben stehen wollen.

Vor einigen Tagen meldete sich Haakonsen in einem Snowboardmagazin noch einmal zu Wort: „Why I still hate the Olympics“ ist die Überschrift des Textes, den der ehemalige König der Szene verfasst hat. Haakonsen kritisiert noch immer dieselben Dinge wie vor 16 Jahren, zu Beginn des Olympia-Abenteuers. Das IOC habe den Snowboardern das Snowboarden „gestohlen“. Die Regeln würden dem kreativen Potenzial des Sports nicht gerecht. Es gehe dem IOC nur um ein cooles Image für Olympia, nicht um Snowboarden. Und tatsächlich ist es schwer, diesen Vorwurf ganz von der Hand zu weisen: 2010 in Vancouver erreichte das Snowboard-Halfpipefinale in den USA die dritthöchsten Einschaltquoten der gesamten Spiele. Mehr Leute sahen nur bei der Eröffnungsfeier und dem Eishockeyfinale USA-Kanada zu. Und es wird wohl eher kein Zufall gewesen sein, dass im Logo der Winterspiele damals ein Snowboarder durch die olympischen Ringe sprang – und kein Skispringer.

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