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Von der Gartenlaube zum Nobelpreis

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Stephen sitzt in einer Schrebergartensiedlung im Ruhrgebiet in einer engen Blockhütte und erzählt eine Geschichte, die im Keller seines Elternhauses beginnt und über eine geheime Gartenlaube nach Arizona führt und von einer Metalparty zur Verleihung der Nobelpreise in Stockholm. Hin und wieder schenkt Stephen Kaffee aus einer Thermoskanne nach oder streicht seine langen Haare hinters Ohr. Er plaudert beschwingt, er plaudert wach und wie gedruckt. Draußen warten Schrebergärten darauf, endlich grün werden zu dürfen. Es ist einer der letzten kalten März-Samstage. Stephen schaltet die Gasheizung in der Blockhütte seines Opas an. Erzählstimmung. Moulinetten zerlegen Stephen ist sechs Jahre alt, als ihm sein Vater, nur zum Spielen, Batterien, Lämpchen und elektrische Widerstände an die Hand gibt. Stephen steckt mit Vergnügen elektrische Schaltungen und entdeckt die Reihenschaltung noch ehe er sie verstanden hat. Vier Jahre vergehen. Die Schaltungen sind verräumt, Stephen beschäftigt sich jetzt mit Rohrreiniger, Terpentin und mit Farbverdünnern: Er experimentiert mit den Dingen, die ein Haushalt bereit hält und extrahiert zum Beispiel die Farbstoffe aus den Farben.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Stephen lächelt, wenn er sich erinnert und streichelt einen Moment seinen Kinnbart: „Ja, zu der Zeit habe ich im Zweifel lieber Moulinetten zerlegt als Matchbox gespielt.“ Stephen wird elf Jahre und entdeckt das Internet und Möglichkeiten. Er verräumt die Haushaltsreiniger und ordert stattdessen online Laugen, Erlenmeyerkolben oder Destillationsapparate - er will Chemiker werden. Eines Tages tritt er vor seinen Vater. „Ich brauche konzentrierte Salzsäure!“Nun ist Vater Schulz Schichtleiter und Sicherheitsbeauftragter im Kohlekraftwerk Scholven, Europas größtem Steinkohlekraftwerk und deshalb zur Skepsis verpflichtet. Ein Tropfen Säure kann das Augenlicht kosten. Aber Stephen betet in einer Selbstverständlichkeit die geplanten Sicherheitsvorkehrungen herunter - Schutzbrille, nur unter Aufsicht - dass der Vater es erlaubt. Er verspricht seinem kleinen Forscher gar eine „Laborlaube“ in einem Schrebergarten. Die Chemikalien dürfte man sowieso nicht mehr im Wohnhaus lagern. Auf die Fläche der Hütte passt gerade ein ausgebreiteter Schlafsack. Für Stephen passt seine ganze Welt hinein. Heute ist diese Welt voll mit Chemikalien, mit Chromatographen und Stoffen wie Goldsalz oder Platin, mit deren Hilfe Stephen einen Chip entwickelt hat, auf den man Flüssigkeit tropfen lassen kann, die binnen 30 Sekunden elektrochemisch analysiert wird. Auf diese Art könnte man künftig, nur ein Beispiel, in Windeseile die Menge an Sauerstoff im menschlichen Blut messen. Chemiekonzerne wurden ob dieser Entwicklung auf Stephen aufmerksam und statteten ihn förderhalber mit teuren Gerätschaften und Chemikalien aus. So wurde Stephens Laube schon die „wertvollste Gartenlaube des Landes“ genannt, deshalb wird ihr Standort nicht verraten. Manche nennen Stephen „Überflieger“. Stephen Schulz, 20 Jahre, Abi-Schnitt 2,0, zweites Semester Chemie an der Universität Münster, schenkt Kaffee nach. „Vielleicht wundere ich mehr über die Dinge als andere. Aus diesem Wundern ergeben sich Fragen und die versuche ich zu beantworten.“ Vielleicht hat es mehr mit Überfliegen als mit Durchdringen zu tun. „Ich kann einfach nicht akzeptieren, dass etwas so ist, wenn ich nicht verstanden habe, warum es so ist!“ Seine Chemielehrerin werden in der zehnten Klasse Stephens Nachfragen zu blöd. Gesamtschule Gelsenkirchen Buer-Mitte. „Dann stell Du Dich doch her!“ sagt sie und meint es ernst. Stephen entwickelt ein Lehrkonzept, Tafelbilder, baut Versuche auf, die für das Klassenzimmer eigentlich zu gefährlich scheinen: Er zeigt seiner Klasse die Synthese von Kochsalz aus den Elementen Natrium und Chlor. Beide sind sehr reaktiv und natürliche Gegenspieler. Experten warnen, man solle sich wirklich gut überlegen, ob man diesen Versuch durchführe. Explosionsgefahr! Stephen lässt in einer Apparatur auf dem Lehrerpult Chlorgas über Natrium streichen und es entsteht Kochsalz. „Total ungefährlich“, sagt Stephen. Wenn man weiß, was man da tut. Wenn man das Woher und Wohin einer Reaktion kennt, warum dann Angst haben? „Das ist ja das Hauptproblem der Chemie: Die Menschen haben Angst vor den Reaktionen.“ Was man nicht versteht, was man nicht zerlegt, vor dem behält man Respekt. Stephen kennt diesen Respekt nicht mehr. Er hat ihn sozusagen zerlegt. „Nicht die Chemie sollte uns Angst machen“, sagt Stephen, „sondern die Dinge, die wir mit ihr machen.“ Von der 10. bis zur 12. Klasse unterrichtet er und liebt es irgendwann, weiterzugeben, was er sich angeeignet hat. Allein die Noten gibt noch die Lehrerin. In der Laube isoliert er derweil den Farbstoff der Brombeere. Die ist in echt gar nicht schwarz, sie wird erst durch das Licht schwarz, das mit dem Farbstoffmolekül Flavon reagiert. Wenn man an dieses Flavon ein Sauerstoffatom und ein Wasserstoffatom hängt und in den menschlichen Körper bringt, fängt es freie Radikale. Das sind Atomgruppen, die Krebs auslösen können. Nun kann ein solches Flavon-Derivat ein mittelmäßiger Radikalfänger sein oder ein extrem guter. Das hängt ganz davon ab, an welcher Stelle des Flavon-Moleküls der Sauer- und der Wasserstoff kleben. Stephen wollte eigentlich nur wissen, warum das so ist, hängt aber durch Zufall die Atome im Versuch so, dass sich die Radikalfängerwirkung verzwölffacht. Soll heißen: Forschung ist Zufall. „Und Sturheit!“ Stephen lacht leise. Metallica und Nobelpreis Er wird bei „Jugend forscht“ unter anderem für seinen Chip und die Flavonforschung ausgezeichnet. 2005 darf er zum größten Nachwuchsforscherwettbewerb der Welt nach Phoenix, Arizona. 1400 Teilnehmer aus 40 Ländern zeigen in der City Hall ihre Ergebnisse, Stephen weiß, wie man Chemie präsentiert, zeitweise drängen sich 40 Forscher an seinem Stand. Er gewinnt fünf Preise. Darunter ist der so genannte Grand Award, den jedes Jahr nur drei Jungforscher weltweit erhalten; darunter ist eine Einladung zu einem Seminar anlässlich der Nobelpreisverleihung in Stockholm. Stephen nimmt Preisgelder in Höhe von 75 000 Euro mit nach Gelsenkirchen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Jetzt, im Blockhaus, wirkt Stephen, als sei er damals aus seiner Laube in ein Gewitter der Aufmerksamkeit getreten. Allein der Gewinn. „Ich habe das lange Zeit nicht richtig realisiert.“ Er finanziert damit sein Studium und die Freiheit, in die Laube zu dürfen und nicht auf den Bau zu müssen. Am 8. Dezember 2005 dann geht Stephen zur „Götterdämmerung“, der größten Metal-Party Nordrhein-Westfalens. Er mag Metallica, Metal nennt er nach der Chemie seine zweite „Berufung“. Zwei Tage später hält er in Stockholm einen Vortrag vor dem Nobelkommitee. Er trifft Theodor Hänsch, der zur gleichen Zeit den Nobelpreis für Physik bekommt. Die beiden plaudern und Hänsch erzählt Stephen von den Röntgenröhren, die er in seiner Jugend bastelte. Dazu braucht es Hochspannung und die Dosis der Röntgenstrahlung ist kaum zu kalkulieren. Aber wenn man weiß, was man tut? Theodor Hänsch hatte übrigens auch eine „Laborlaube“. Fotos: Dominik Asbach

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