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Was bleibt von Occupy?

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Auf Zehenspitzen tanzt eine Ballerina im Nacken eines wild gewordenen Stiers. „Bringt Zelte mit“, steht unter dem Bild. Es ist das erste Plakat der Occupy-Bewegung. Vor fast genau drei Jahren verbreitete es sich im Netz. Es rief zum Protest auf: am 17. September 2011 im New Yorker Zuccotti Park, in Fußentfernung zur Wall Street.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


 
Anfangs kamen nur ein paar Hundert. Doch in den nächsten Wochen demonstrierten Menschen in fast tausend Städten in über 80 Ländern gegen soziale Ungerechtigkeit und die Wirtschaftsmacht der Banken. Sie trugen Guy-Fawkes-Masken und Plakate mit der Aufschrift „We are the 99 %“.
 
Die meisten waren junge, gut ausgebildete Berufstätige und Studenten. Aber auch Arbeitslose, Rentner oder Hausfrauen marschierten mit. Nicht zufällig platzierten die Initiatoren ihren Protest direkt vor dem mächtigsten Finanzzentrum der Welt. Sie wollten einen eigenen „Tahrir Moment“, beflügelt durch die Aufbruchstimmung des Arabischen Frühlings und der „Indignados“ in Spanien. Sie wählten dafür den Verfassungstag der USA.
 
Plötzlich war da, womit keiner mehr gerechnet hatte: ein globaler Ausdruck der Wut über den wild gewordenen Finanzsektor. Eine demokratische Bewegung stellte eine neue Systemfrage: Wie mächtig darf Kapitalismus sein? Für viele war Occupy ein kleines politisches Wunder. Junge Menschen arbeiteten über einen neuen Zugang an einem politischen Projekt, abseits der etablierten Organisationen und Parteien. Und überhaupt: endlich eine Jugendbewegung! Es keimte die Hoffnung, dass die jungen Leute des neuen Jahrhunderts doch nicht als politikverdrossene Ego-Generation in die Geschichtsbücher eingehen würden.
 
Auch in Deutschland demonstrierten im Oktober mehr als 40 000 Menschen, die meisten in der Finanzhauptstadt Frankfurt. Sie campten länger als ein Jahr. In Spanien waren es an einem Tag rund eine Million, allein in Rom etwa 300 000. Angela Merkel bezeichnete Occupy als „eine gerechtfertigte Meinungsäußerung“, US-Präsident Obama sagte, er stehe auf der Seite der Demonstranten.
 
Nach dem harten Winter 2011/12 war dann aber doch alles ziemlich schnell vorbei. „Was ist Eure Forderung?“ wurde zur wiederkehrenden Frage an dieProtestierenden in den Camps. In der globalen Vielschichtigkeit fand die Bewegung keinen roten Faden. Viele zogen sich ernüchtert in ihren Alltag zurück. In den Zeltstädten harrten immer weniger Hartnäckige aus, schließlich beendete die Polizei das Spektakel Stadt für Stadt. Für viele blieb der Nachgeschmack: Occupy war gescheitert.
 
Während sich Politiker wieder abwandten, hielt das Interesse von einer anderen Seite bis heute an: Die Ideen von Occupy beeinflussen die Kunstwelt, und zwar stärker denn je. Aus dem Geist von Occupy hat sich eine neue Welle politischer Kunst entwickelt. Die Karte unten versammelt Beispiele aus der ganzen Welt.
 
Die Berliner Biennale lud im April 2012 Occupy-Aktivisten ein. Auf der Documenta 2012 zelteten Aktivisten ungefragt auf dem zentralen Platz – die Direktorin empfing sie herzlich. Ein Regisseur am Schauspiel Stuttgart führte ein Occupy-Theater auf. Seit Donnerstag läuft der Dokumentarfilm „Everyday Rebellion“ über kreative Protestformen aus der ganzen Welt in den Kinos.
 
Doch wie kann es passieren, dass eine politische Bewegung in die Kunst abwandert? Und: Ist das jetzt gut? Oder verlieren sich konstruktive Gesellschaftsideen in unerreichbaren Fantasiegebilden? Keineswegs, sagen Politikwissenschaftler, Soziologen und Kunstexperten. Occupy in der Kunst ist kein Irr- sondern nur ein konstruktiver Umweg.
 
Auch wenn Kulturproduktion auf den ersten Blick keine Verbindung zum politischen System hat, wirke sie sich doch irgendwann darauf aus, sagt etwa der Soziologe Oliver Marchart. Beispiel Hippiebewegung: Die 68er waren politisch zunächst erfolglos, betäubten ihren Frust über das Establishment mit LSD. Mittelfristig läuteten sie aber eine Kulturrevolution ein, langfristig standen sie sogar politisch an der Spitze: Joschka Fischer, Claudia Roth oder Otto Schily.
 
Occupy war von Anfang an auf ästhetische Wirkung ausgelegt. Sie ist eine der ersten sozialen Bewegung des Internetzeitalters: visuell, massentauglich choreografiert, dezentral. Aber auch widersprüchlich, ambivalent und abgehoben. Das macht den Protest an sich zu einer künstlerischen Performance, zur „performativen Demokratie“, wie der österreichische Medienkunstexperte Peter Weibel sagt: „In den sozialen Medien ist der Bürger zum ständigen Sender und Empfänger geworden, der nicht mehr nur alle paar Jahre per Wahlzettel an der Macht teilhaben will, sondern jederzeit.“
 
Die Occupy-Bewegung greife die Aktionskunst der Sechziger und Siebzigerjahre auf. Joseph Beuys oder Yoko Ono forderten damals Interaktion mit dem Publikum – eine Idee, die sich unter dem Begriff der „Bürgerbeteiligung“ bis in die heutige Politik fortgesetzt hat. Kunst habe also politische Gesten vorausgesagt, sagt Oliver Marchart. „Ebenso kann die aus einem Protest entstandene Kunst für nächste Bewegungen Impulse geben.“ Medienexperte Peter Weibel ist sicher: „Der Name kann verschwinden, aber die Bewegung ist irreversibel.“

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