Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Zu Besuch bei den Nicht-Orten der Stadt

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Eine der Sachen, die man lernt, wenn man dahin fährt, wo man sonst nie hinfährt in München, ist das mit den Einkaufswagen. Wie es um ein Viertel steht, hat nicht viel damit zu tun, ob da Wohnblöcke sind oder keine, ob die grau sind oder bunt, alt sind oder neu, sondern ob vor den Hauseingängen Einkaufswagen stehen. In Neuperlach zum Beispiel stehen ziemlich viele. Kaufmarkt-Einkaufswagen und die orangen Plus-Einkaufswagen, manchmal noch zusammengeschlossene Reihen, sodass man einen Euro reinstecken muss, wenn man einen haben will. Manchmal liegen sie auch nur umgestürzt vor den Haustüren. Was sind Nicht-Orte? Nicht nur einfach Stadtteile etwas weiter draußen, sondern seltsame blinde Flecken, Städte in der Stadt. Es gibt einige davon: den Arabellapark, an der östlichen Endhaltestelle der U4. Oder die Messestadt, ganz am Ende der U2, da haben sie fast unbemerkt ein Wohnviertel für ein paar tausend Menschen hochgezogen. Oder das Olympiadorf, wann kommt man da schon mal hin? Dabei standen diese Orte mal für etwas. Hier sollte Beispielhaftes entstehen, hier wurden Mini-Städte am Reißbrett entworfen, in den 60ern, 70ern, 80ern und den 90ern, hier sollte, grob gesagt, alles besser werden: weniger Verkehr, mehr Grün, bessere Einkaufsmöglichkeiten. Hier wurde für den Menschen gebaut, schöner Wohnen in groß. Und jetzt liegen sie da einfach, diese künstlichen Kleinstädte mit ihren Wohnblöcken, und keiner interessiert sich dafür. Außer man fährt einfach mal hin. Los geht's


Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Arabellapark Größe: 57 Hektar; Einwohner: 3 451; Ausländeranteil: 26,9 Prozent; Anzahl der Bewohner zwischen 15 und 30: 15,65 Prozent; Hartz-IV-Empfänger: 40; Fahrtzeit zum Marienplatz: 14 Minuten Der Arabellapark gilt als beliebtes Stadtviertel. Gute Wohnqualität. Aber um es gleich zu sagen: Es ist da einfach geschmacklos. Nicht mal hässlich, sondern geschmacklos. Sie haben 1968 angefangen hier zu bauen, davor war dort angeblich nichts außer Äckern und Schafweiden, und dann haben sie ein pompöses Hochhaus hingebaut, Münchens erstes Hochhaus, das Arabellahaus. Der damalige Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel ist zur Eröffnung mit dem Hubschrauber auf dem Dach gelandet, dann übernahm eine Hotelkette das Ding, baute noch so einen Kasten daneben, und dann kam 1981 noch ein an drei Betonsäulen aufgehängter Büroklotz, das Hypo-Hochhaus, dazu. Davon zehren sie noch heute. Es will hier alles ein bisschen Richard Strauss sein, nach dessen Oper Arabella das ganze Viertel benannt ist. Alles heißt Arabella, der Arabella-Buchladen, Arabella-Optik, Arabella-Bäckerei, Arabella-Apotheke, das Arabella-Dessous-Geschäft, aber ist eben nicht die große Oper, sondern allerhöchstens Arabella Kiesbauer, Privatfernsehen. Das ganze Ungemach sammelt sich in einer durchbetonierten Fußgängerzone um den Rosenkavalierplatz, in der Stadtbücherei schenken Frauen in Pelzmänteln Prosecco aus, und im Café Wiener’s daneben versteckt sich der Rest vor dem Wind und trinkt Wein aus viel zu großen Gläsern. Das Wiener’s gibt es auch im Ludwig Beck, aber hier hängt ein Fernseher über der Bar, es läuft eine Verkaufsshow auf DSF. Schaut man raus, auf das Cadillac-Kino mit der American Bar, und auf das New-Hong-Kong-Restaurant gleich daneben, auf diesen komischen Themenparkdorfplatz, vermisst man nichts so sehr wie eine Kirche und ein Rathaus. Wenn man dann zurückgeht zur U-Bahn, kommt eine Frau und fragt, ob es hier einen McDonald’s gibt. Und man muss antworten: Nein, für so was sind sie sich wohl zu schade hier. Nach Neuperlach auf der nächsten Seite.


Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Neuperlach Größe: 734 Hektar; Einwohner: 49 353; Ausländeranteil: 31,13 Prozent, Anteil der Bewohner zwischen 15 und 30: 19,49 Prozent; Hartz-IV-Empfänger: 1 491; Fahrtzeit zum Marienplatz: 18 Minuten Es gab einmal eine Idee von München: „München, das ist keine beliebig auswechselbare Ansammlung von Personen, Straßen und Gebäuden. Es ist eine organisch geschlossene Gesellschaft, in der sich die Menschen geborgen fühlen und ein wenig froher, ein wenig glücklicher und erfüllter zu leben glauben als anderswo.“ Die Idee einer Stadt ohne Nicht-Orte. Das stand im Münchner Stadtentwicklungsplan aus dem Jahre 1963. München platzte damals aus allen Nähten, 80 000 Wohnungen waren im Krieg zerstört worden, und dann kamen die Leute zurück, 1945 waren es 420 000 und zehn Jahre später wieder eine Dreiviertel Million. Gebaut haben sie dann Neuperlach. Es war das größte westdeutsche Siedlungsprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Entlastungsstadt für 40 000 Menschen. Zwei Jahre, nachdem die ersten Bagger angerückt und die ersten Wohnblöcke gebaut waren, grub der amerikanische Künstler Michael Heizer einen Krater zwischen die Häuserzeilen, vier Meter tief und 35 Meter breit. Man konnte hinuntersteigen, die Wohnblöcke verschwanden, vom Grund aus war nur noch der Himmel zu sehen. Die Arbeit ist heute im New Yorker Whitney Museum dokumentiert. Der Titel: Munich Depression. Ja, es ist ein bisschen trostlos in Neuperlach, vor allem wenn es regnet, aber wirklich: nur ein bisschen. Es gibt dort einen Wohnring, einen geschlossenen Kreis aus dreizehn- und vierzehnstöckigen Hochhäusern, Durchmesser ein halber Kilometer. Der Wohnring sollte Herzstück Neuperlachs werden, mit Schwimmbad, Bürgerhaus, Konzerthalle und Eislaufbahn, aber gebaut wurden nur die Wohnblöcke, und heute ähnelt er ein bisschen der Festung Mordor, wenn man nicht so genau hinschaut. Man braucht knapp eine Stunde bis man einmal außen herum gelaufen ist, und wer schon einmal in so einem 60er-Jahre-Hochhaus gewohnt hat, weiß wie das ist, mit diesen dünnen, hellhörigen Wänden, durch die man ständig das Geschrei der Nachbarn hört. Aber jetzt, wenn es dunkel wird und man durch die hellen Fenster in die Wohnungen sieht und Familien beim Abendessen zuschaut, möchte man sich fast dazusetzen. Es sind die Kleinigkeiten: dass zwar die ganzen Hauseingänge vollgeschmiert sind, aber wirklich fast nur mit Liebeserklärungen. Oder ebendiese Sache mit den Einkaufswagen. Neuperlach ist vielleicht ein sozialer Brennpunkt, aber auch nicht das Märkische Viertel in Berlin. Geboren wurde hier kein neues Proletariat, geboren wurde in Neuperlach, am 13. April 1975: Lou Bega, Sänger des ewigen Sommerhits „Mambo No. 5“. Jetzt in die Neue Messestadt!


Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Neue Messestadt Größe: 483 Hektar; Einwohner: 9 086; Anteil der Bewohner zwischen 15 und 30: 21,02 Prozent; Ausländeranteil: 31,10 Prozent; Hartz-IV-Empfänger: 240; Fahrtzeit zum Marienplatz: 21 Minuten Noch zwei Zahlen: 73 Prozent der Bewohner der Messestadt sind jünger als 40 Jahre. Und davon sind wieder 42 Prozent jünger als 14. Anders gesagt: Die Messestadt ist ein einziger Kindergarten, in dem noch ein paar Erwachsene zum Aufpassen leben. Es gibt eine Helsinki- und eine Oslostraße, was sehr gut zum skandinavischen Ikea-Stil der Mehrfamilienwohnhäuser passt. Einkaufswagen stehen hier keine, nur Kinderwagen, und man mag sich nicht vorstellen, wie viele Kinder gerade noch gezeugt werden, während man durch die Straßen läuft. 1992 startete das letzte Flugzeug in München-Riem, der Flughafen wanderte nach Freising, und sie haben gesagt, lasst uns was bauen für die Familien, die können sich ja nichts leisten in der Stadt. Aber so wie es jetzt aussieht, ist es einfach lieblos hingeklatscht, quadratisch-glatte Neubaukasten. Still ist es, trotz der Kinder, wie eine Einkaufszone nach Ladenschluss, verwaist und leer, man kann die Willy-Brandt-Straße nach Osten weiterlaufen, links das Messegelände und rechts die Wohnungen, es zerfranst immer mehr, löst sich auf in eine Großbaustelle, ein Mann klaut Styroporblöcke, und ganz am Ende, zwischen Baggern und Kränen und Büroblöcken, steht noch ein Wohnhaus, gerade fertig gebaut, in einem Fenster brennt Licht, und ein Paar schaut hinaus, und dann kommt gar nichts mehr, nur ein Vater kehrt mit seinen verdreckten Kindern vom Waldspaziergang heim. Zu Besuch im Olympiadorf auf der nächsten Seite


Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Olympiadorf Größe: 40 Hektar; Einwohner: 6 326; Ausländeranteil: 29,7 Prozent, Anteil der Bewohner zwischen 15 und 25: 32,33 Prozent; Hartz-IV-Empfänger: 114; Fahrtzeit zum Marienplatz: 12 Minuten Vielleicht werden Nicht-Orte nur zu Nicht-Orten, weil man niemanden kennt, der dort wohnt? Sarah ist im Olympiadorf zu Hause. Sie wurde hier geboren, da waren ihre Eltern noch Studenten, jetzt studiert sie selbst und ist wieder im Olympiadorf gelandet. Wenn man Glück hat, führt sie einen durch die mit roten, gelben oder grünen Leitsystemen versehenen Wege des Olydorfes, wie es die Bewohner nennen. Sie erzählt, wie ruhig es hier ist, wie sie im Sommer im Nadi-See vor ihrer Haustür badet, wie mediterran die verwucherten, weißen Beton-Bungalows und Terrassen-Häuser wirken. Und sie erzählt auch, wie sehr sie sich in einer Parallelwelt fühlt, aber in einer angenehmen, und wie sehr ihr die zehn Minuten ins Zentrum als Ausflug in eine andere Stadt vorkommen. Sie geht in einen halblegalen Probenraum, in dem der Schimmel an den Decke hängt, durch die Ladenpassage, in der es keinen Buchladen gibt, und nimmt einen mit auf das Dach der Welt, eine Terrasse im 15. Stock eines Hochhauses, in dem Sportstudenten in winzigen Zimmern wohnen. Hier kann man Bier trinken und über München schauen und sich wundern, wie klein die Türme der Frauenkirche aus der Ferne wirken. Unten ist die Baustelle, wo sie die alten Bungalows abgerissen haben und gerade neue aufbauen. Man erinnert sich, wie im Oktober letzten Jahres auf der letzten Party die Studenten irgendwann nach Mitternacht anfingen, alles kurz und klein zu schlagen, vielleicht aus Trauer, weil sie aus ihrem Zuhause vertrieben wurden, vielleicht aus Wut, weil es hier doch nie richtig ein Zuhause sein konnte, bis die Polizei mit Hunden und Schutzschildern kam, aber da war schon alles kaputt. Sarah sagt, ihre nächste Wohnung wird nicht mehr im Olympiadorf sein. Ort oder Nicht-Ort, ganz egal.

Text: adrian-renner - Fotos: Adrian Renner

  • teilen
  • schließen