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Zwischen Kunst und Selbstzerstörung

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Es riecht wie beim Zahnarzt. Mitten im Raum steht ein gewaltiger, grauer Behandlungsstuhl. An den klinisch weißen Wänden sind Seifen- und Papierhandtuchspender befestigt. Daneben hängen bunte Christusbilder in silberfarbenen, neobarocken Rahmen. Das eigentliche Kunstwerk aber ist Thorsten Sekira selbst. Unter seinem rechten Auge verlaufen, exakt parallel, drei kleine Schnittnarben. Die Piercings und Tätowierungen, die er am ganzen Körper trägt, kann er nicht mehr zählen. Mit den Beulen auf seiner Stirn erinnert er an eine Figur aus Star Trek. Thorsten Sekira hat nie einen Operationssaal von innen gesehen. Er hat nie eine medizinische Fachausbildung genossen, nie einen Doktortitel erworben. Trotzdem führt er chirurgische Eingriffe durch. Er dehnt Körperöffnungen, setzt Implantate, spaltet Zungen und Genitalien. Thorsten Sekira ist Body-Modification-Artist. Was fremd, vielleicht primitiv klingen mag, betrachtet Sekira als Extremform des alltäglichen Körperkults: „Body Modification fängt beim Rasieren und beim Schminken an. Mit dem Unterschied, dass ein Kurzhaarschnitt gesellschaftlich akzeptiert ist, Stirnimplantate dagegen nicht – erst recht nicht in München“. „Alle sind auswechselbar“ Vor fünf Jahren ist Thorsten Sekira aus Wien nach Schwabing gekommen, um seinen eigenen Laden zu eröffnen. „Ich hasse München“, sagt der 35-Jährige heute. Sekira sitzt im fensterlosen Hinterzimmer seines Studios. Die Arme verschränkt, mit verschlossener Körperhaltung. Rechts und links: Umzugskartons. In ein paar Tagen zieht er nach Köln. „Hier in München ist es stinklangweilig. Es schaut alles gleich aus. Die Häuser, die Menschen: Alle sind angepasst und auswechselbar“. Dann erzählt er vom fehlenden Kunstverständnis der Münchner und dass er sich in Köln mehr Würdigung seines Handwerks erhofft. Jene Würdigung, die Sekira innerhalb der BodMod-Szene seit Jahren erfährt. Er selbst zählt sich zu den weltweit zwanzig Besten seiner Zunft.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Thorsten Body Modification bewegt sich zwischen Kunst, Selbstzerstörung und der Sehnsucht nach Grenzerfahrungen. „Ich persönlich will schauen, wie weit ich meinem eigenen Körper trauen kann“, sagt Thorsten Sekira. Die Lust am Schmerz spiele für ihn keine Rolle: „Wenn jemand nur den Schmerz sucht, dann soll er zu einer Domina gehen“. Body Modification sei eine Frage des Körpergefühls. „Die breite Masse kann nicht nachvollziehen was die Motive für extreme Körperveränderungen sind. Die westliche Gesellschaft hat verlernt, auf den eigenen Körper zu hören. Darum werden die Leute auch immer fetter“, sagt er. Die Glocke an der Ladentür klingelt. Eine junge Frau kommt herein. Sie wünscht sich ein Lippenpiercing. Laufkundschaft. Nichts Aufregendes. Die Frau setzt sich auf den grauen Behandlungsstuhl, Thorsten Sekira zieht sich Gummihandschuhe über, sein Gesicht und der Ziegenbart verschwinden hinter einem Mundschutz. Nach wenigen Minuten ist alles vorbei. „Ein Automechaniker lebt auch vom Ölwechseln“, sagt Thorsten Sekira über diese einfachen Piercing-Arbeiten. Es sei eben wichtig fürs Business. Abseits des Jobs verbringt er die meiste Zeit zuhause mit seiner Frau. „Ich komme aus einem bürgerlichen Elternhaus und bin mehr Spießer, als die meisten denken. Ich muss nicht jedes Klischee erfüllen“, sagt er. Mit seiner Frau, sie ist Model und Künstlerin, verbindet Thorsten Sekira der Sinn für eine besondere Ästhetik. Die Inspiration für seine Kunstprojekte findet er ebenfalls in der BodMod-Szene. Er inszeniert so genannte „Suspensions“. Dabei werden menschliche Körper an ins Fleisch getriebene Haken aufgehängt. Es geht oft blutig zu. „Ich hätte gerne ein kitschig bemaltes Kinderkettenkarussell für eine meiner Performances. Ich würde die Schaukeln abhängen und Leute aufhängen. Das wäre cool“, sagt er. Wenn Thorsten Sekira über seine Kunst spricht, wird seine Stimme plötzlich weich. Misstrauen und Skepsis schwinden aus seinen Augen. Er scheint sich für einen Augenblick zu öffnen und verfällt stärker in seinen Wiener Dialekt. Dann weicht er zurück, verschränkt die Arme wieder und sagt beinahe trotzig: „Mir ist egal, was die Leute über meine Kunst denken. Bei Andy Warhols Suppendosen hat sich am Anfang auch jeder gewundert. Später wurde es dann zu Kunst erhoben“. Vielleicht spiegelt Thorsten Sekiras kühler Blick nur das Misstrauen wider, das ihm selbst entgegenschlägt. „Ich bin es eben gewohnt, dass mich die Leute auf der Straße anstarren“, sagt er. Gerade habe er erst wieder erfahren müssen, wie schwer es für ihn ist, eine Wohnung zu finden. „Kinder reagieren viel lockerer auf mich als Erwachsene. Kinder finden Tätowierungen super, weil sie es selbst lieben, sich anzumalen. Sich zu verändern ist ein natürlicher Impuls des Menschen, der in der heutigen Zeit durch gesellschaftliche Zwänge unterdrückt wird“. Vielleicht habe er sich das Kindsein stärker erhalten als andere, sagt Sekira. Dabei blitzt kurz das Zungenpiercing zwischen seinen Lippen auf. Wie bei einem Marathonlauf Was er von Schönheitsoperationen halte? „Auch die gehören zur Body Modification. Mit dem Unterschied, dass Silikonbrüste ein gesellschaftlich akzeptiertes Schönheitsideal sind“, sagt Thorsten Sekira. Das werde nicht hinterfragt. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass in Deutschland ein Zahnarzt plastisch-chirurgische Eingriffe vornehmen dürfe. In seinem Beruf sei das ähnlich: „Du gehst auf das Gewerbeamt, legst 30 Euro auf den Tisch und bist Tätowierer. Dabei ist dieser Job mit großen gesundheitlichen Risiken verbunden“, sagt er. Über strengere Gesetze würde er sich freuen, doch werde für seinen Job nicht einmal medizinisches Wissen gefordert. „Das Gesundheitsamt überprüft einmal im Jahr ob ich einen Seifenspender habe. Mehr nicht. Das ist traurig.“ Thorsten Sekira hat sich sein Wissen über 15 Jahre hinweg selbst angeeignet: Er wisse Bescheid über Anatomie, Dermatologie, Bakteriologie. Er hat Fachbücher gelesen, sich mit anderen Piercern und Tätowierern ausgetauscht. Er ist dafür weit gereist. Meist in die USA, wo die BodMod-Szene viel größer sei als hier in München: „Hier gibt es kaum Individualisten“, sagt er noch einmal. Und weiter: „Die Leute können einfach nicht verstehen, dass Body Modification keine Selbstverstümmelung ist. Das ist wie beim Marathonlauf: Es tut weh, aber wenn du es geschafft hast, die Schmerzen überwunden hast, dann bist du glücklich“.

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