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Der „Und jetzt?“-Ticker

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„Wo guckst du heute?“ – das war für meine Freunde die Frage des Sommers. Sie roch nach Grillen und kaltem Bier in heißer Sonne, nach Hoffnung und heimeliger Aufgehobenheit unter Freunden. Mit jedem gewonnen Deutschlandspiel wurde der Sommer noch sonniger und das Leben noch vollkommener. Akute Arbeitsflucht war plötzlich gerechtfertigt und unter genüsslichem Bierploppen konnte man sich dem Ausnahmezustand nahezu gewissenlos hingeben. Überall fieberte die Masse. Hupend und winkend aus dem Auto heraus, vom Fahrrad herunter oder über den Balkon gebeugt: Das ganze Land in Brüderschaft. Ich habe mit Fußball eigentlich überhaupt nichts am Hut. Nein, auch während der WM nicht. War schon immer so. Aber dieser euphorische Schwung der letzten Tage, als unser Land so kurz und knapp vor dem Sieg war - da hat es mich dann doch gepackt. Das euphorische Hochschaukeln der Masse war eine Versprechung. Ein naives Gefühl, natürlich. Aber ich dachte eben, diesen Sommer würde noch etwas ganz, ganz Großes passieren. Diese gemeinsame Jubelei, dachte ich, die bringt uns alle ins ultimative Glück. Sonntag erwartete ich die Explosion. Und dann kam vorgestern. Zugegeben war ich nicht mit Freunden unterwegs, sondern saß zu Hause. Ich habe während des Spiels gelesen, gar nicht richtig hingesehen. Meine plötzlich so positive Einstellung zur WM zeichnet sich wirklich weniger durch Interesse als durch schlichte Adrenalinsucht aus. Ich wartete auf die letzten zehn Minuten des Spiels und wollte dann kräftig mitjubeln. Auf dem Fahrrad durch die Straßen fahren, in der Euphorie baden - und so. Aber dann kam Spanien. Schoss ein Tor, einfach so. Vom Balkon nebenan lautes Raunen und dann Stille. Alle mussten bangend auf den Bildschirm starren und warten, dass es doch noch etwas würde mit dem Sommertraum. Aber: Nichts. Das Spiel war verloren.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die erwartete Jubelwelle in den Straßen blieb aus. Ersatzhalber hatte ich aber jedenfalls die umgekehrte Reaktion erwartet: laute Wut. Doch es blieb einfach nur still. Im Fernsehen kämpfte Philipp Lahm mit seinen Tränen und dann wurden verlassene deutsche Stadien eingeblendet. Es war, als hätte auf einem rauschenden Fest plötzlich jemand das grelle Licht angemacht, hätte alle verjagt und man selbst wäre mit der Hässlichkeit der vermüllten Tanzfläche allein. Fast ein bisschen schlimmer noch: Als sei jemand Junges gestorben, wo man dann immer sagt: „Aber er hatte sein Leben doch noch vor sich!“ Zum ersten Mal glaube ich also tatsächlich die Ausmaße von Fußballbe- und entgeisterung zu begreifen. Ich frage mich: Wie geht es denn jetzt den echten Herzblutfans, zwei Tage später? Schleichen sie stillschweigend in die Garage, reißen die Socken von ihren Rückspiegeln, kratzen die Flaggenaufkleber herunter und schreiben den Sommer ab? Gehen sie duschen, vergraben das Trikot im Schrank und fangen ein neues Leben an - so, als wäre nichts gewesen? Oder ist der Sommer für sie jetzt vielleicht einfach ruiniert? Und: Wie geht es eigentlich dir damit? Münzt du die angestaute Euphorie einfach um, für andere Aktivitäten? Was bringt der restliche Sommer noch so?

Text: mercedes-lauenstein - Bild: ddp

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