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Rauten auf den Augen

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Wenn meine Mutter mir früher andeuten wollte, dass ich schon zu lange vor dem Fernseher oder dem Computer sitze, sagte sie in empörtem Tonfall: „Du hast ja schon ganz viereckige Augen!“ Es könnte sein, dass Mütter heute oder spätestens in ein paar Jahren einen anderen warnenden Satz sagen: „Du hast ja schon ganz rautenförmige Augen!“  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Die Raute, beziehungsweise der Hashtag, ist eines der Schriftzeichen, das in den vergangenen Jahren einen enormen Aufstieg hingelegt hat. Netzversteher Sascha Lobo vor Kurzem vorgeschlagen, dem Internet ein Logo zu verpassen: einen Hashtag. Bislang wurde er vor allem auf Instagram und Twitter benutzt, die Kommunikation auf diesen Plattformen ist wesentlich davon geprägt. Jetzt führt auch Facebook den Hashtag ein, künftig kann man dort seine Posts verschlagworten und nach Schlagworten suchen.  

Die Welt ist mitunter verwirrend. Das Internet auch. Netzwerke wie Twitter oder Facebook erst recht. Zu viele Posts, zu viele Informationen, von allen Seiten, in alle Richtungen, in allen Formen, ernst und dramatisch, quatschig und lustig, böse und hämisch, nett und mitfühlend. Selbst wer Unordnung und Chaos liebt, sehnt sich da nach ein bisschen Ordnung. Dafür gibt es den Hashtag. Er schafft Struktur, macht Tendenzen und Trends erkennbar, vereint Menschen, die auf der ganzen Welt über ein gemeinsames Thema sprechen wollen, an einem riesigen virtuellen Stammtisch, wie im Moment bei den Debatten über die Demonstrationen in der Türkei oder die Abhörbespitzelungen der NSA zu beobachten ist.  

Hashtags sind zu einem Mittel der politischen und gesellschaftlichen Debatte geworden. Die Sexismusdebatte um FDP-Spitzenkandidat Brüderle hat es mit dem Hashtag #Aufschrei gezeigt: Gehört wird, wer es schafft, ein Schlagwort populär zu machen. Dazu braucht man kein Amt und kein Geld. Man braucht gutes Timing und Reputation im Netz. Regelmäßig rufen Blogs dazu auf, Revolutionen zu starten und die Welt zu verändern, so gut wie immer liefern sie einen Hashtag mit, er soll Motor und Gradmesser zugleich sein. Weil solche Schlagworte unkontrollierbar sind, versumpfen solche Versuche oft auch, oder werden gekapert und einer anderen Bedeutung zugeführt. Die Schlagworte bekommen eine Eigendynamik. Der Hashtag #SignsYoSonIsGay zum Beispiel versammelte ursprünglich schwulenfeindlich Tweets – bis immer mehr Twitternutzer dagegen anredeten und das Schlagwort schließlich zum Schauplatz einer digitalen Gegendemonstration wurde.   

Natürlich kann man nicht leugnen, dass die Verschlagwortung auch eine – wahrscheinlich sehr viel größere – andere Seite hat: die quatischge, bisweilen völlig beknackte, selbstdarstellerische, übertriebene. Es gibt Tweets, in denen vor lauter Schlagworten gar kein Inhalt mehr Platz hat. Menschen nutzen Hashtags, weil sie denken, zu dem gerade total angesagten Thema auch etwas Witziges beitragen zu müssen – was selten gelingt. Sie schreien, weil alle gerade schreien. Oder sie posten unter einem populären Schlagwort völlig schlagwortfremde Inhalte, nur um damit auf der Aufmerksamkeitswelle mitzureiten. Auf Instagram sieht man Fotos, unter denen eine Hashtag-Legion wartet, für deren Lektüre der Betrachter zehn Mal so lange braucht wie für das Anschauen des Bildes selbst. Was bitteschön bringt es, unter ein Strandfoto zu schreiben #great #summer #love #amazing?  

Wie stehst du zur Verschlagwortung der Welt? Drückst du mehrmals am Tag die Raute-Taste an deinem Rechner? Glaubst du an die Macht des Hashtags? Oder bist du eher genervt von den Versuchen, jede noch so kleine Lebenssituation mit einem Schlagwort zu versehen?

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