Der Brief von meinem Großvater ist gefürchtet: Jedes Jahr finden meine Familie, aber auch seine Freunde und ehemalige Arbeitskollegen einen schreibmaschinengetippten Brief in ihrem Postkasten, in dem die Ereignisse des vergangenen Jahres abgehandelt werden. Das wäre soweit in Ordnung - hätte nicht vor Jahren jemand meinem Großvater gesagt, dass wir, seine Familie, in diesem Brief doch alle verdammt gut wegkämen.
Seitdem gibt er sich also Mühe, nicht nur lobhudelnd über unsere Zeugnisnoten und den Berufsstand zu schreiben, sondern plaudert auch mal Privates aus. Auf einmal weiß jeder von der 80-jährigen Tante bis zum früheren Bürokollegen, ob meine Beziehung vorangeht, wer zu selten bei meinen Großeltern vorbeischaut und wie mein Großvater unsere Berufsentscheidungen bewertet. Das ist zum Teil sehr herzerwärmend - aber halt auch nur, wenn man gut dabei wegkommt. Wenn Opa hingegen zum zweiten Mal hintereinander schreibt, dass es schulisch ja besser laufen könne oder auffällig sei, dass X und Y immer noch nicht geheiratet haben, wird's unangenehm. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass viele von Opas und Omas Freunden diese Briefe seit Jahren sammeln und abheften. "Die freuen sich da das ganze Jahr drauf", erzählt dann meine Großmutter stolz. Bei dem Gedanken, dass viele Menschen, die ich noch nie gesehen habe, so mein gesamtes Leben, von der Einschulung bis zum Studienabschluss verfolgt haben, wird mir ganz anders. Und da sagt nochmal jemand, unsere Generation würde bei Facebook zu viel Privates preisgeben.