Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Mädchen, warum immer diese absolute Loyalität?

Teile diesen Beitrag mit Anderen:


Liebe Mädchen,
 
neulich beim Bier in größerer Runde: Die Dings kommt rein, bisschen verheult, glaube ich. Etwas verquollene Augen jedenfalls und irgendwie fahl. Und deutlich sauer. Kein „Hallo“ also, sondern direkt los: vom T. und was sich der gerade herausgenommen hat. „Unfassbar“ sei das! Und „Unterirdisch“! „Echt jetzt!“ Die ganz große Schimpftirade. Und darin – bitte, das ist jetzt noch keine Verallgemeinerung, aber in dem Fall war’s eben so – auch ganz schöner Unsinn. Weil halt offensichtlich ein Missverständnis vorlag.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Und interessant ist jetzt die erste Reaktion. Weil: Der S. holt Luft, ziemlich tief, wie es sonst Leute tun, die etwas sehr Langes und sehr Bedeutendes sagen wollen, und meint dann: „Hä?“ Und dann noch mal etwas Luft und während er die Frage „Und was ist daran jetzt so schlimm? Kann es nicht sein, dass er eigentlich nur ...“ stellte, fiel ihm die M. ins Wort und der Dings mit so was wie „Eeecht?!“ um den Hals. Und dann sind sie zu zweit rauchen gegangen, die Dings und die M., und haben da – ich habe mal kurz gelauscht, weil ich dann doch besorgt war – zehn Minuten lang zusammen drüber geschimpft, was der T. denn denke, wer er sei! Und dann kamen sie zurück.
 
Und noch etwas interessanter ist jetzt die zweite Reaktion: Als sie zurückkamen, war der Ton nämlich schon wieder ganz anders. Mehr so: „Ich glaube ja nicht, dass er das so gemeint hat. Vielleicht wollte er eigentlich echt nur ...“.
 
Mir geht’s jetzt überhaupt nicht drum, irgendeinen Unterschied aufzumachen, zwischen besonnenen Kerlen und hysterischen Weibern. Ist Blödsinn. Aber das Muster – absolute Nibelungentreue als erste Reaktion (Wenn die Dings sagt, der T. ist ein Schwein, ist der T. halt erst mal ein Schwein. Und was für eins!), dann differenzieren, nachfragen, abwägen, widersprechen und den Kopf der Erzürnten zurechtgerückt im Nachfassen – das kenne ich schon. Und zwar eher von euch.
 
Und die Frage wäre jetzt: Warum macht ihr das so? Warum zuerst die uneingeschränkte Zustimmung und danach erst Tatsachenschau? Weil: Loyalität ist ein hohes Gut, klar. Eines der höchsten bestimmt. Aber bedingungslose Loyalität ist etwas für Fanatiker. Und das seid ihr ja nicht. Deshalb auch die Vermutung: Ihr tut das ganz bewusst, richtig? Prinzip Blitzableiter. Die Energie raus aus der Luft und in den Boden. Und dann weiterschauen. Stimmt’s? Oder ist da noch mehr? Klärt mal auf. Ohne Umschweife, bitte!

>> Die Mädchenantwort von melanie-maier




Liebe Jungs,  

der Blitzableiter trifft’s eigentlich ganz gut. Zu eurer Beruhigung erst mal: Ja, wir wissen, dass wir uns in höchster Aufregung manchmal selber in die Tasche lügen. Wir wissen aber auch, dass das ganz geil ist. Habt ihr noch nie ausprobiert, ne? Wie sich das anfühlt, wenn man nach einem Streit noch mal so richtig aufbraust, sich so ganz hineinsteigert in die eigene Wut und alles, auch noch das kleinste bisschen Rage, das sich tief drin in einem findet, auf die – zum Glück – nun abwesende Person richtet. Man kann toben, schreien, wüten – und es gibt keiner Widerworte. Alles, was man dazu braucht, ist ein verständnisvoller Mensch, der sich den kindischen, idiotischen, völlig überzogenen Ausraster mal eben anhört. Dauert auch nur zehn Minuten, dann ist wieder gut.  

Natürlich geht’s dabei auch ein bisschen um die konkreten Inhalte: Die Dings findet den T. – aus welchen Gründen auch immer – in dem Moment einfach nur scheiße. So richtig kacke. Ein Riesen-Arschloch. Und die M., die weiß das. Die weiß aber auch genauso gut wie der S. – und wie die Dings unter ihrer dicken, schwarzen Schicht aus Wut –, dass der T. es vielleicht gar nicht so gemeint hat. Ein Missverständnis, klar. Kommt vor. Wenn man sich jetzt nur die konkreten Inhalte anschaut.  

Aber um die geht’s eben eigentlich auch nicht. Neben der offensichtlichen Ventilfunktion ist viel entscheidender: der Trost und die Bekräftigung der eigenen Person in der Gemeinschaft. Indem die M. den Anfall der Dings akzeptiert und zulässt, signalisiert sie: „Ich bin für dich da – egal, was ist. Und: egal, wie logisch oder unlogisch du dich verhältst. Wir gegen die anderen!“ Das ist für uns der ultimative Beweis der Freundschaft. Und ja, wenn ihr so wollt, ein bisschen Nibelungentreue.  

Und weil die M. das weiß, geht sie mit der Dings erst mal nach draußen. Ist zehn Minuten lang ihr Blitzableiter. Und wenn der Sturm vorbei ist, die Blitze alle eingeschlagen sind, dann erst fängt sie an, ganz vorsichtig zu fragen: „Kannst du dir nicht vorstellen, dass der T. das vielleicht gar nicht so gemeint hat?“ Damit hat die M. ihre Aufgabe als Freundin gemeistert. Und liefert der Dings außerdem noch etwas: Die Möglichkeit nämlich, selbst abzuwägen und mit erhobenem Kopf aus dem Wutanfall hinauszuspazieren. Zu sagen, ja, das könne sie sich schon vorstellen. Natürlich sei der T. trotzdem ein Arsch, aber gut, eventuell, vielleicht, habe er es gar nicht so gewollt. Sei eigentlich schon gut möglich. Sobald das passiert ist, beginnt – wie ihr ganz richtig observiert habt – Phase zwei: Analyse und Aufarbeitung. Dann erst folgt die dritte Phase: die Problemlösung.  

Und weil wir das wissen, würde auch nie im Leben eine von uns auf die Idee kommen, die Andere im Akt des Sich-Hineinsteigerns und Im-eigenen-Schmerz-Suhlens zu unterbrechen oder – ganz falsch – ein logisches Argument dagegen vorzubringen (please don’t!!). Das ist, das müsst ihr mal checken, ein sehr bewusster und vor allem rationaler Vorgang. Selbst, wenn wir ihn irgendwann intuitiv abspulen. Das einzig Richtige ist für uns nun mal zuerst die von euch so liebevoll betitelte „bedingungslose Loyalität für Fanatiker“. Sorry. Nur so kann sich das Ventil öffnen. Nur so kann die Wut raus.  

Könnt ihr euch für euch selbst auch mal merken: Rationalität ist total toll. Aber manchmal verlangt sie den Umweg über irrationale Loyalität. Bevor ihr kluge Fragen stellt, nehmt ihr uns das nächste Mal also gefälligst erst in den Arm!

Text: jakob-biazza - Illustration: dirk-schmidt; Cover: Süddeutsche Zeitung Photo

  • teilen
  • schließen