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Mädchen, warum könnt ihr nicht werfen?

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Die Jungsfrage

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ich weiß schon, liebe Protestgemeinde, es gibt auch bestimmt ganz viele tolle Leichtathletikmädchen. Aber ehrlich: in meiner Klasse war damals keine einzige davon, in meiner ganzen Jahrgangsstufe nicht. Da waren nur und ausschließlich Mädchen, die den Wurfball bei den Bundesjugendspielen zwei Meter vor sich in den Boden stauchten. Und zwar mit einer angestrengten Beharrlichkeit die uns gequälten Jungsbetrachtern völlig unverständlich war. Da ging es nicht um mangelnde Kraft, da ging es um viel mehr: Koordination, Verständnis für bewegte Objekte, einfachste physikalische Abläufe, die eigentlich jeder, der aufrecht gehen, kann auch beherrscht. Bis auf euch. Auch jenseits von Schule und Sportplatz ist es jämmerlich: Bittet man die Kollegin zwei Tische weiter, mal schnell einen neuen Post-it-Block rüberzuwerfen, weil man grade den entfesselt sinnierenden Roger Willemsen interviewt, knallt der Block erst an die Decke und fällt dann hinter seiner Absenderin runter. Soll die Freundin mal eben den Autoschlüssel über den elterlichen Vorgartenzaun befördern, ähnelt seine Flugbahn nicht einer schönen runden Wurfparabel, sondern donnert nach vierzig Zentimetern ins Tulpenbeet. Mädchen, ihr lasst immer zu spät los! Oder wie seht ihr das? Die Mädchenantwort kriegt der Junge auf der nächsten Seite an den Kopf geknallt.


Die Mädchenantwort

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Oh Mann. Ich habe ja immer gedacht, dass mit dem Ende der Bundesjugendspiele in meinem Leben die guten, freien Zeiten begonnen hätten. Weit gefehlt: Kaum ist man bei jetzt.de, kommen Jungs und machen sich mit der Brechstange an alten Wunden zu schaffen. Wenn man mich fragt, liegt auf dem Sportplatz der Grundschule der Samen der Geschlechteridentitätsbildung begraben. Judith Butler und Simone de Beauvoire hätten sich wahrscheinlich nicht halb so viele Gedanken gemacht darüber, wie ein Mensch zu Mädchen oder Junge wird, wenn sie einmal eine Leichtathletikstunde der zweiten Klasse in Deutschland besucht hätten. Da geht das nämlich ganz einfach und ruckizucki. Siebenjährige Kinder fühlen sich gendermäßig gesehen noch als amorphe Masse. Klar, die einen tragen Pferdeschwänze und die anderen geben damit an, dass sie im Stehen Pipi machen können. Trotzdem tut sich der erste echte Graben erst in folgender Situation auf, an die ich mich traurigerweise noch erinnern kann, als sei sie gestern geschehen: Matze, Phillip, Melli und ich stehen in der Frühlingssonne und halten kleine Lederbälle in der Hand. Matze setzt an, zeigt mit der linken Hand seine Wurfbahn an und wirft entsprechende 30 Meter mit der rechten. Boah, denke ich. Phillip wirft noch weiter. Kann ich auch, denke ich. Die Jungs machen High Five und Jubellaute. Melli läuft nach vorne und – knallt den Ball schwungvoll drei Meter vor sich ins Gras. „Haha, Mädchen können halt nicht werfen!“, rufen die Jungs. Die Sportlehrerin nickt. Melli streckt die Zunge raus, ich schaue sie an. Ich bin ja auch ein Mädchen, denke ich. Laufe nach vorne. Und verrate zur Wahrung meiner persönlichen Würde mehr jetzt nicht. Nur so viel: Beim Weitspringen habe ich dann mehr Meter gekapert. Nachdem es nach meiner Erfahrung in jeder Klasse nur etwa drei Mädchen gibt, die den Jungs an Wurftechnik nichts nachstehen, glaube ich, sagen zu können: Die Kombination aus Ball, Distanz und unserer Körperkoordination ist von Anfang an ein Quell der Erniedrigung für die meisten von uns. Erfolgserlebnisse, die ja für die eigene Entwicklung nicht unwichtig sind, kommen einfach nicht vor. Anstehen, warten, die 20 Meter-Grenze wieder nicht knacken und den höhnischen Blicken der Gruppe der Werfen-Könner ausgesetzt zu sein, ist ein so sinnloses Leiden – denn wozu braucht man den Quatsch überhaupt, wenn man etwas auch tragen kann? – dass wir uns dem ganzen Prozess irgendwann schicksalsergeben versagen. Wir geben einfach auf. Das ist nicht gerade lobenswert, aber bestimmt psychologisch recht leicht zu erklären. Jedes Mal, wenn wir einen Gegenstand per Luft durch den Raum befördern sollen, hängt uns der Satz: „Mädchen können halt nicht werfen“ wie ein bleierner Medizinball am Arm. Selbst wenn es nur um einen Schlüsselbund oder einen Textmarker geht. Was soll ich sagen, Jungs? Nächstes Mal, wenn ihr uns bittet, euch kurz die Kippen rüber zu werfen, haltet ein! Denkt daran, welche Last wir euretwegen tragen. Kommt her und holt euch den Kram selbst. Und fragt nicht so doof. Sonst müsst ihr uns beim nächsten Mal erzählen, warum ihr eigentlich keinen Spagat könnt. Ätsch! meredith-haaf

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