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Mädchen, wieviel „Tee im Schneidersitz“ seid ihr wirklich?

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Die Jungsfrage:

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Nun habe ich „Eat Pray Love“ nicht gesehen, aber ich habe dauernd so eine Vorstellung im Kopf, so ein Bild vor Augen, das den gesamten Film, wie ich ihn mir nach den vielen Besprechungen vorstelle, zusammenfasst. Auf diesem Bild (keine Ahnung, ob es das vielleicht sogar wirklich gibt) sitzt Julia Roberts im Schneidersitz auf einem Sofa. Über den gekreuzten Beinen liegt eine lilane Decke. Zwischen ihren sehr gliedrigen Händen hält sie eine Tasse, ach nein, einen fetten Pott mit Tee drin. Mit den Augen schaut sie aus dem Fenster in eine novembrige Landschaft. Sie schaut mild aber dennoch zweifelnd in diese Welt. In meinen Augen hat dieses Bild oder zumindest die Vorstellung von der Szenerie schon fast ikonografische Dimensionen. Das Setting spiegelt vielleicht einen bestimmten Mädchentyp wider, der sehr eng mit den Nullerjahren verbunden ist. In diesen ersten zehn Jahren des neuen Jahrtausends ist die Welt aufs Gaspedal getreten. Die Dinge wurden schnell, globalisiert und technisiert. Manchmal hatte man den Eindruck, die Menschen seien in dieser Zeit generell nervöser geworden. Dieses Mädchen, von dem ich spreche, konterte die Entwicklung mit Innerlichkeit und Tee. Das Mensch-Decke-Tasse-Arrangement, behaupte ich mal dick auftragend, symbolisiert den Rückzug in die Nachdenklichkeit und betont die Notwendigkeit von Gelassenheit. Oder ist das Quatsch? Lade ich, nur weil mir selbst vor einer Stunde ein paar Herbstgefühle vor die Nase spaziert sind, dieses Musterbild, dieses Stereotyp einer jungen und sinnenden Dame zu sehr auf? Steckt wirklich in jedem von euch Mädchen diese Sonntagnachmittagsgoldenerherbstglückseligkeit? Oder stellen wir Jungs uns das nur so gern vor, weil wir euch in dieser Stellung ganz besonders extra zuneigungsempfänglich und zum Liebhaben finden? Oder ist es sehr einfach und ihr sagt: „Hör mal! Heute sitzt niemand mehr so in der Gegend rum. Diese Bilder gibt es nur mit Julia Roberts und in eurer 20er Jahre-Vorstellung von Romantik.“ Wieviel „Tee im Schneidersitz“ seid ihr wirklich?


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Während ich deine Frage lese, merke ich, wie romantisch mir zumute wird. Ich wickele mich fest in meine dicke Herbststrickjacke ein und blicke aus dem Fenster über die nebelüberzogene Stadt. Bevor ich mir Gedanken machen kann über die richtigen Worte für eine Antwort, nehme ich mir noch fest vor, am Wochenende so einen „Innerlichkeit und Tee“-Moment abzuhalten, wie du ihn beschreibst. Brauche ich unbedingt! Kein Internet, keine Zeitung, kein Nullerjahre-Gaspedal. Nur ich, die dicke Wolldecke, Kerzen, Klaviermusik und Zimtgeruch. Zwischendurch ein Herbstspaziergang im Park. Mit dicken Wollsocken in die Gummistiefel, Mantel an, Mütze auf, Schal umgeschlungen und auf zum Kastaniensammeln. Du siehst also: Die Herbstgefühligkeit quillt nur so aus mir heraus. Aber weißt du was? In Wirklichkeit wird mein Wochenende so ablaufen: Ich muss endlich mal meine Steuer machen, aufräumen, Wäsche waschen, zwischengespeicherte Bookmarks lesen und Sachen auf E-Bay zum Verkauf stellen. Zwischendurch werden mir noch mindestens zwanzig andere Sachen einfallen, die ich schon lange vor mir herschiebe. Neben all dem werde ich unbemerkt auch noch jede Menge Zeit vertrödeln. Zum Beispiel auf Facebook oder mit unerwarteten Familientelefonaten. Und schließlich werde ich auch endlich mal wieder diverse Leute auf einen Kaffee, ein Bier oder ein Essen treffen wollen. Vor Ungeduld werde ich mit dem zu dünnen Mantel auf die Straße rennen, mir mit den Sommerschuhen die Füße feucht latschen und mir ungeföhnt einen kalten Kopf holen. Denn die Gummistiefel, von denen ich da oben schwärme, besitze ich gar nicht. Ich sollte mich also vielleicht auch mal in die Stadt bequemen, um ordentliche Winterklamotten zu kaufen. Wenn ich mich nun in diesem Chaos länger als eine halbe Stunde mit Wolldecke und Tee in die Ecke setze, werde ich mit großer Wahrscheinlichkeit ziemlich nervös. Wir reden immer so viel von dieser Endjahresgemütlichkeit, aber ich kenne eigentlich kaum eine, die sie auch konsequent durchzieht. Okay, schweigen wir mal von jenen Mädchenbloggern, die jeden Tag zu ihrem persönlichen Märchen küren, indem sie ständig pastellfarbene Bilder von Plätzchen, Laub und Kaschmirmützen ins Internet laden. Traurig, nicht? Denn eigentlich wäre ich sehr gerne ein bisschen zuneigungsempfänglicher und zum Liebhaben. Auch so für die eigene Zufriedenheit. Jetzt ertappe ich mich gerade bei dem Gedanken daran, dass ich mich vielleicht einfach ein bisschen erkälten könnte, denn das wäre nämlich eine gute Ausrede für Tee und Ruhe. Wie erbärmlich! Lieber sollte ich vielleicht gleich mal raussuchen, in welchem Kino bei mir heute um die Ecke ‚Eat, Pray, Love’ läuft, nachher eine Badewanne nehmen und morgen früh gleich neue Saiten aufziehen. So mache ich es! Bestimmt! mercedes-lauenstein

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