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Kinderlieder neu gehört: Das Wandern ist des Müllers Lust

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Heute: Das Wandern ist des Müllers Lust Darum geht’s: Willkommen im Leben des Verfahrensmechanikers der Getreide- und Futtermittelwirtschaft - im Folgenden der Einfachheit halber häufig kurz mit dem Codewort “Müller” bezeichnet. Der Müller wandert viel und gern. Analysiert man seine Beweggründe, lassen sich die zum Niederknien schöne Natur und der innere Drang zur Wanderschaft herauskristallisieren. Das ist die Natur der Dinge: Wasser fließt, Verfahrensmechaniker wandern. Der Müllergeselle wandert nach Abschluss seiner Lehre von Mühle zu Mühle, um von den unterschiedlichen Meistern seiner Zunft dazuzulernen. Die Wanderjahre, auch Walz oder Tippelei genannt, waren im Mittelalter eine Voraussetzung, um Meister werden zu können. Heutzutage sind sie freiwillig. Wer sich auf die Walz begibt, muss sich dennoch zumeist an eine Reihe schwachsinniger Regeln halten: Die Mindestzeit für die Wanderschaft beträgt in der Regel drei Jahre. Der Wandernde muss eine Uniform tragen, die jedem Dorfpolizisten zu albern aussähe. Und er darf einen Bannkreis von 50 Kilometern um den eigenen Heimatort nicht betreten. Das gilt sogar dann, wenn die Lieblings-Boygroup des Gesellen zur Goldenen Hochzeit seiner Eltern im heimatlichen Garten rockt. Und vorab in der Presse angekündigt hat, sich die Kleider vom Leib zu reißen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Warum wir dieses Lied gesungen haben: Willkommen im Abenteuer Leben. We all have a dream. Wermelskirchen, Marienrode, New York, Rom, Madrid, Mailand und Melbourne: in den wichtigsten und besten Mühlen der Welt arbeiten und leben. Endlich mal raus aus dem engen Buxtehude und weiterziehen nach Huxtebude. Nicht, dass wir gewusst hätten, was in einer Mühle überhaupt hergestellt wird. Müller-Milch vielleicht, dachten wir. Wir träumten von der Ferne, von einem Leben weitab von der diktatorischen Gewalt unserer Erzeuger. Das Problem: Die wollten nicht nur Erzeuger sein, sondern Eltern. Deshalb lasen sie Ratgeberkolumnen in Frauenzeitschriften und ganze Bücher. Als Folge konnten wir auf dem Pausenhof nie mitreden, weil wir uns keine US-Actionserien reinziehen durften. Und wenn wir etwas angestellt hatten, wurden wir anschließend nicht mal rasch übers Knie gelegt. Nein, wir durften so lange in unserem Zimmer nachdenken, bis wir uns aus freien Stücken entschuldigen wollten. Wer hätte da nicht die Ferne suchen wollen. Da es noch keine Billigflieger gab und Zugfahren schon immer gnadenlos überteuert war, blieb uns nur der Traum von der Wanderschaft. Oder ein Auto kurzzuschließen. Doch da wir keine Actionserien sehen durften, wussten wir nicht, wie das geht. Heute wissen wir: Wandern ist scheiße. Heute hier, morgen dort: nicht verwurzelt, immer weniger Freunde, keine feste Beziehung. Einsamkeit. Dennoch müssen heute sehr viele wandern, vor allem in der jungen Generation: immer dorthin, wo das nächste Arbeitsangebot und zumindest eine kleine Hoffnung auf eine dauerhafte Perspektive besteht. Vorfahrt für Arbeit, nennt das unser Bundespräsident Horst Köhler. Wenn es wenigstens Vorfahrt für gut bezahlte Arbeit wäre. Doch wir hangeln uns von Praktikum zu Praktikum, vertreten hier, vertreten dort und reiben uns auf. Nur den besten gelingt der Sprung von der Generation Praktikum in die Generation Scheinselbstständigkeit. Dann rennen wir fünfzig bis sechzig Stunden die Woche in ein Büro, ohne festen Vertrag, ohne Arbeitslosenversicherung, aber wenigstens bekommen wir mal Geld. Der Soziologe Ulrich Beck nennt uns die “Generation des Weniger”. Das ist falsch. Wir sind die Generation des “Mehr Mehr Weniger Weniger Nichts”: mehr Druck, mehr Arbeit, weniger Geld, weniger Sicherheit und nichts, was darauf hindeutet, dass der ganze Wahnsinn mal ein Ende haben könnte. Bedingungslose Vorfahrt für Arbeit, das bedeutet Rückschritte fürs Leben. Es ist als würden wir im Rückwartsgang in hohem Tempo auf eine Mauer zurasen. Einfach auszusteigen würde uns umbringen. Im Wagen zu bleiben hat vielleicht ähnliche Folgen. Unsere Eltern haben es immer nur gut gemeint und würden uns auch jetzt gern eine Lösung präsentieren: Nur kennen ihre Erziehungsratgeber auch keine. Text, der genauso gut zur Melodie passt: Das Dopen ist des Ullis Lust. Das Dopen ist des Ullis Lust, das Dopen. Das muss ein schlechter Ulli sein, dem niemals fiel das Dopen ein. dem niemals fiel das Dopen ein, das Dopen. [i]Illustration: daniela-pass[/i]

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