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„Ich glaube, dass wir Menschen mit Behinderung immer noch als etwas Minderes ansehen“

Abbildung: Avant Verlag / Mikael Ross

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Als seine Mutter einen Schlaganfall erleidet, nimmt Noels Leben eine neue Wendung: Er wird von zu Hause weggebracht und muss fortan in Neuerkerode leben. Das Dorf exisitiert nicht nur in „Der Umfall“, die Graphic Novel des Münchner Zeichners Michael Ross. Das Dorf liegt in Niedersachsen, es wurde als Betreuungseinrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung gegründet. 

jetzt: Was wusstest du vor deiner Arbeit an der Graphic Novel vorher über Neuerkerode?

Mikael Ross: Ich wusste tatsächlich gar nichts über Neuerkerode und habe es nur gegoogelt, bevor ich losgefahren bin. Also wusste ich, dass es eine Betreuungseinrichtung ist, aber mehr auch nicht. Ich wusste nicht, dass es ein richtiges Dorf ist. Als ich ankam, wurde ich erst einmal begrüßt. Das ist dort so: Du wirst begrüßt, von jedem Menschen, den du triffst. „Wer bist du, ich bin der, ich wohne hier, was machst du “ Die Menschen dort haben ein wahnsinniges Interesse. Der erste Rundgang war deswegen so intensiv, weil ich in einer sehr kurzen Zeit 30, 40 Leute kennengelernt habe. Erst dann kam am nächsten Tag ein Treffen mit dem Leiter von Neuerkerode, der das Projekt vorgeschlagen hat. Aber da hatte das Dorf bei mir schon so einen Eindruck gemacht, dass ich wusste: Das ist was ganz Besonderes.

Wie viele Charaktere sind Fiktion, wie viele Wirklichkeit?

Alle Figuren wurzeln in realen Menschen, aber ich habe darauf geachtet, dass verschiedene Ideen oder Gesprächsfetzen in einer Figur zusammenfließen. Comics sind dann doch ein sehr kurzes Format, um Geschichten zu erzählen. Durch die Bild-für-Bild-Erzählung ist viel weniger Platz, als man denkt. Es geht immer darum, wie man aus der Masse von Informationen ein Konzentrat herstellt. Und bei Neuerkerode ist ganz wichtig: Das sind nicht die Häuser oder der Ort an sich, sondern es sind menschliche Beziehungen, die im Mittelpunkt stehen. Du kannst keine zehn Meter gehen, ohne in dieses Geflecht verwoben zu werden. Es ist wie in jedem anderen Dorf auch: Sobald du ein paar Schritte gehst, wirst du in ein Gespräch verwickelt, es werden Geschichten erzählt, es wird getratscht.

 

Von Menschen mit Behinderung haben wir keine Berichte über die Zeit des Holocaust

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Du arbeitest dich auch an der Vergangenheit ab: In einem kurzen Flashback erzählt eine ältere Frau vom Dorf von der Zeit des Holocausts.

Diese 90-jährige Frau gibt es wirklich, sie heißt aber natürlich anders. Die Geschichte hat sie mir so erzählt. Aus Neuerkerode wurden etwa 176 Personen zwangsverlegt, die meisten mit dem Ziel der Ermordung. Deswegen war für mich klar, dass das im Buch einen Platz haben muss. Denn natürlich war das, nach der Gründung des Ortes, der einschneidende Punkt. Wenn eine Stiftung sich den Auftrag gibt, sich um diese Menschen zu kümmern und 70 Jahre später wird beschlossen, diese Menschen umzubringen, ist das doch unglaublich. Wir haben persönliche Berichte von Juden, die im KZ umgebracht wurden. Aber von Menschen mit geistiger Behinderung haben wir diese Berichte nicht, weil die nicht geschrieben haben. Es gibt da ein richtiges Loch an Erinnerung. Vielleicht auch, weil diese Menschen uns immer noch weitgehend egal sind. Darum musste die Geschichte auch unbedingt ins Buch.

War das alles nicht ziemlich aufwändig?

Das gesamte Projekt hat ungefähr zweieinhalb Jahre gedauert, der intensivste Teil der Recherche war im ersten Jahr. Ich war in regelmäßigen Abständen drei bis fünf Tage dort und habe in einem Apartment im Dorf gelebt. Meine Hauptaufgabe im ersten Jahr war hauptsächlich: Zuhören. Das war auch für mich eine neue Erfahrung – erst einmal nicht zu zeichnen oder aktiv zu sein, sondern nur zuzuhören. Die Menschen kamen auf mich zu und erzählten mir ihre Geschichten. Die Geschichten kamen also zu mir. Und im zweiten Jahr habe ich dann diese Geschichte umgesetzt und geschrieben.

Hattest du während der Arbeit Angst, den Menschen nicht gerecht zu werden?

Auf jeden Fall. Und die Angst ist auch jetzt noch sehr groß. Aber sie ist nicht verkehrt. Deswegen habe ich mich auch entschieden, mit Jean-Baptiste Coursaud als Lektor zusammenzuarbeiten. Er hat durch seine langjährige Arbeit als Übersetzer ein sehr feines Gespür für das Erzählen. 

Neuerkerode ist auch ein witziger Ort

Was mir auch ein Anliegen war: Neuerkerode ist so ein unglaublich witziger Ort. Ich wollte, dass dieser Humor der Menschen zum Ausdruck kommt. Am Anfang der Recherche bin ich oft auch selber durcheinandergekommen, was wir als behindert betrachten und wovon wir glauben, es sei verrückt. Es ist wichtig zu wissen: In diesem Ort ist niemand verrückt. Auch, wenn man nicht immer alle Handlungen versteht oder zuerst mal verquer findet: Wenn die Menschen dir ihre Handlungen erklären, sind die immer sehr klar und logisch.

Würdest du sagen, die Recherche hat dich verändert?

Ich habe schon einen persönlichen Prozess erlebt, außerhalb des Buches.  Ich glaube, dass wir „Normalos“ Menschen mit geistiger Behinderung immer noch als etwas Minderes ansehen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der alle nach oben gucken. Alle wollen besser werden, funktionieren, sich optimieren. Da passt das nicht wirklich rein, dass es Menschen gibt, die ganz andere Voraussetzungen haben. Und die ein ganz anderes Leben führen, das viele Dinge nicht umfasst, die für uns ganz alltäglich sind. Ich habe gemerkt, dass etwas mit mir passiert, wenn ich diese anderen Realitäten wertschätze. Wenn wir als Gesellschaft das Leben zusammen mit Menschen mit Behinderung nur als Bürde verstehen, die mit Aufwand und Geld verbunden ist, dann kann überhaupt kein Austausch stattfinden. Wir können dann nicht von Ihnen lernen und profitieren. In Bezug auf die Mitarbeiter in Neuerkerode dachte ich mir öfter: Dieser Mensch ist viel weiter entwickelt als ich es bin. Und das rührt vielleicht von seiner Arbeit an diesem besonderen Ort her. Mit den Menschen, die in Neuerkerode als Mitarbeiter arbeiten, passiert etwas, ihre Arbeit verändert sie. Und diese Wertschätzung wollte ich auch im Buch zum Ausdruck bringen.

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