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Lesen mit Links (5): Zombies aus der DDR

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Das Buch

Jochen Schmidt gehört seit über zehn Jahren zu den besten Schriftstellern des Landes. Das wussten nur die meisten Leser nicht. Aktuell brilliert der stets groß Scheiternde mit seinem Ferien- und Endzeitroman „Schneckenmühle“.

Im Sommer 1989 darf der 14-jährige Ost-Berliner Jens ein letztes Mal ins DDR-Ferienlager „Schneckenmühle“ fahren. Danach wird er zu alt sein, um mit einer Schülerhorde Nachtwanderungen zu machen, gemeinsam in den sächsischen Seen zu baden und den Mädchen heimlich beim Duschen zuzusehen. Die DDR steht vorm Zusammenbruch, Jens‘ Eltern, so phantasiert er, stehen kurz vor der Scheidung. Wie fühlt sich das an, wenn alles verschwindet?

„Vor allem, was denkt man, wenn es noch keine Handys gibt, und plötzlich die Erwachsenen in den Westen gehen, nur niemand im abgeschotteten Ferienlager informiert wird, dass die Heimat zerbricht?“, fragt Jochen Schmidt. Und die Antwort lautet: „Dann kommen die Gerüchte auf.“ Weshalb die Schülerinnen und Schüler im letzten Ferienlager der DDR ihre eigene Theorie erspinnen, weshalb Menschen von heute auf morgen nicht mehr auffindbar sind: Sie müssen sich in Zombies verwandelt haben. Denn dass jemand „rübergemacht“ hat, ist erstmal undenkbar.

 „Sonnenallee” wurde Ostalgie vorgeworfen, während Westdeutsche unbekümmert über ihre kapitalistische „Generation Golf” schreiben durften. Warum eigentlich?

Sehr geschickt mixt Jochen Schmidt in „Schneckenmühle” ostdeutsches Lokalkolorit mit Wehmut und Phantasie. Sein Buch über eine Gruppe junger Freunde, die sich binnen weniger Wochen von Kindheit, DDR-Heimat und Gewissheiten trennen müssen, funktioniert auf drei unterschiedlichen Ebenen. Da ist zum Einen dieser Jens, der eine irre Vision nach der anderen entwickelt: „Das Essen hat mich von innen gesehen, das würde ich auch gern einmal”, gleichzeitig aber bei Worten wie „Finnischer Meerbusen” oder „Spitzbergen” kindisch kichern muss. Dann erzählen sich die Ferienlagerfreunde „urban legends” über den Westen, wo es zum Frühstück angeblich „Müllschnitten” gibt und Mütter ihre Kinder bis zur Einschulung stillen. Anschließend singen sie: „99 Handgranaten fliegen auf den Kindergarten.” Ausserdem ist „Schneckenmühle” ein respektables DDR-Archiv, das beispielsweise an den klaren Schnaps „Blauer Würger” erinnert. Von dem „kannste 100 Etiketten einsenden, dann kriegste‘n Blindenhund”. Dass das Klopapier in der DDR nicht perforiert, sondern "am Stück" an der WC-Garnitur hing, weiß nach diesem Buch auch jeder.

„Es geht hier um Grunderfahrungen, die wir alle machen”, sagt Jochen Schmidt, „es geht um die Relativität von Wahrheit und, was man im Leben werden soll, wie man glücklich sein kann, obwohl alles irgendwann ein Ende hat.” Aber „Schneckenmühle”, dieses unverschämt gut geschriebene Buch, ist bestimmt mehr als die Geschichte eines Ende - es könnte, nach über zehn Jahren, der Anfang der großen Jochen-Schmidt-Karriere sein. Er hätte es verdient.

Jochen Schmidt: „Schneckenmühle”, C.H. Beck, 220 Seiten, 17,95 Euro.

Die Querverweise  

Auch wenn es Jochen Schmidt nicht passt: Sein Roman „Schneckenmühle” ist unterhaltsam wie „Liebe ist ein hormonell bedingter Zustand” von Jakob Hein, lesbarer als der „Der Turm” von Uwe Tellkamp - und mindestens so einfallsreich wie das weiterhin unterschätze „Plan D” von Simon Urban. Noch mehr „Urban Legends” gibt es übrigens sehr preiswert in diesem kleinen Reclamband . Und das „Kinderdorf Schneckenmühle” in der Sächsischen Schweiz ist keine Erfindung des Dichters, sondern bietet weiterhin Ferienlager und Klassenfahrten an.

Die Updates

Girls Gone Oscar Wilde: Der sehr gute, vom Onlinemagazin Electricliterature verantwortete Blog „The Outlet” begeistert uns mit dem „Paperman” und der sehr schönen Rubrik mit Veranstaltungsfotos von Lesungen, Buchpremieren und Literaturfestivals , die an diese nervigen Partyfotoseiten erinnert, auf denen die Menschen mit dem betrunkensten Lachen meistens am unglücklichsten ausschauen.  

Blutige Schwestern: Seit Lisa Kränzler mit ihrem Roman „Nachhinein” für den Preis der Leipziger Buchmesse 2013 nominiert wurde, wird heftig gestritten. Ist ihre Geschichte über eine verblendete Wohlstandstochter und ihre Unterschichtenfreundin ein Spiel „im Sprachgeröll”, oder doch der „radikale Gegenentwurf zu Wolfgang Herrndorfs Road Novel Tschick” ? Wir sagen: "Nachhinein" ist ein erbarmungsloser Text und Lisa Kränzler die Autorin der Stunde.  

Zum Einchecken: Das LiteraturBüro Ruhr hat gerade die Bedingungen für den Förderpreis des „Literaturpreises Ruhr” veröffentlicht. Gesucht werden kurze Erzählungen aus, um, über Hotels. Die Geschichten müssen bis zum 29. Juni 2013 (Datum des Poststempels) an das Literaturbüro Ruhr e.V. geschickt werden. Zu gewinnen gibt es 2555 Euro. Preisträger vergangener Jahre waren unter anderem Tanja Dückers , Popliterat Mirko Kussin und Sascha Reh, der gerade mit „Gibraltar” begeistert."

Text: jan-drees - Illustration: Katharina Bitzl

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