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Lesen mit Links (8): Palliativ-Sampler und "Glücksatmung"

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Das Buch  
Es soll Menschen geben, die sich nicht dafür interessieren, wer von wem noch Geld bekommt und wie der Kontostand des Kollegen ausschaut. Dennoch wurden Feuilletonisten in den vergangenen Jahren nicht müde, von deutschen Autoren den "großen Finanz- und Wirtschaftsroman" zu verlangen. Gigantisch war die Freude, als Leute wie Kristof Magnusson mit "Ich war das nicht" und Rainald Goetz mit "Johann Holtrop" die Forderungen über Soll erfüllten. Deshalb kann man nun beruhigt von der FDP-Literatur zum Engagement zurückkehren und all jener gedenken, die aus dem Wirtschaftskreislauf rausgefallen sind und mithilfe des Brandenburger Jobcenters den Mount Everest besteigen müssen, weil sie keine reguläre Arbeit haben.

Ruth Amsel aus dem "Südbalkon"-Debüt von Isabella Straub gehört zu diesen bemitleidenswerten Menschen. Ihr Freund Raoul, ein gescheiterter Softwaredesigner, sagt zwar immer, dass sie ein zweites Einkommen benötigen. Aber "das klingt, als ob wir bereits über eines verfügten, doch in Wirklichkeit hält uns das Geld von der Gesellschaft über Wasser." Bei dieser sogenannten "Gesellschaft für Wiedereingliederung", man könnte auch "Arbeitsamt" dazu sagen, kümmert sich ein Mann, der an die heilende Kraft von Engeln glaubt, um seine "Klienten". Selbstverständlich hilft er kein bisschen. Wie gut, dass Ruths Freundin Maja eine Umschulung zur "Existenzberaterin" gemacht hat.

Irgendetwas muss sich für Ruth doch finden lassen. Doch die lebt lieber auf der "Nulllinie", hat keine allzu großen Erwartungen an ihr Leben. Ein Kind, das wäre schön, eine Villa auch nicht schlecht. Aber all das kann man sich mit viel Phantasie genauso gut einfallen lassen. Ruth hat Phantasie. Sie beobachtet regelmäßig Chirurgiepatienten, die durch den Krankenhausgarten flanieren. Um Geld zu sparen, finden Verabredungen nicht im Café, sondern in Küchencentern statt. Raoul und sie küssen sich zwar nicht mehr beim Sex. Aber sie haben Gefallen gefunden an einem Rollenspiel, bei dem sie "das Flittchen" und er den Frauen aufreißenden "Gentleman" spielt.

Das klingt trostlos, aber "Südbalkon" ist kein trostloses Buch. Das liegt an Isabella Straubs schräger Phantasie, die ihr Cover mit den Pudelmenschen bei Weitem übertrifft. Es treten unter anderem auf: ein Krankenhauspater, der einen Palliativ-Sampler zusammengestellt hat ("Knocking on heaven's door"), eine Yoga-Mama mit Schreikind (Spezialgebiet: "Glücksatmung") und eine hexengläubige Verkäuferin, die in einer "Esothek" arbeitet. Dazu kommen großartige Sätze wie: "Ein Raiffeisendirektor, der in meine Mutter verliebt ist, will mein Kinderzimmer beziehen." Oder auch: "Es ist ein Merkmal der Langzeitsarbeitslosen, dass ihre Haut aktiver ist als sie selbst."
"Südbalkon" ist kein Slapstick, die sehr skurrilen Menschen, Orte und Begebenheiten in diesem großartigen Roman sind nicht weniger absurd als die reale Idee, Arbeitslose einen virtuellen Mount Everest hochsteigen zu lassen.

Isabella Straub: "Südbalkon", Blumenbar, 256 Seiten, 18,99 Euro


Die Querverweise
Immer mehr deutsche Autoren erzählen vom Leben im Prekariat, ohne jedoch in den teilweise nervigen Tonfall der engagierten 70er-Jahre-Protestliteratur zu verfallen. Der nicht hoch genug zu feiernde Raul Zelik, dem es schon vor Jahren gelungen ist, M.I.A. und baskischen Terrorismus zusammenzuführen, hat 2006 mit "Berliner Verhältnisse" einen grandiosen Roman hingelegt. Das funktioniert ebenso überzeugend und teilweise an "Südbalkon" erinnernd bei Peter Licht ("Die Geschichte meiner Einschätzung am Anfang des dritten Jahrtausends"), Katja Kullmann ("Echtleben") und Clemens Meyer ("Die Nacht, die Lichter").


Die Updates
In Leipzig ist noch bis Sonntag Buchmesse. Am Donnerstag wurde zum neunten Mal der Preis der Leipziger Buchmesse vergeben. In der Kategorie Belletristik wurde David Wagner ("Leben") ausgezeichnet, Helmut Böttiger ("Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb") im Bereich Sachbuch/Essayistik und Eva Hesse in der Kategorie Übersetzung ("Ezra Pound: Die Cantos").

Eierlikör im Schokobecher frei Haus: Der Kulturmaschinen-Verlag feiert am 15. März seinen 5. Geburtstag mit einer langen Lesenacht. Ab 20 Uhr geht's im "süß+salzig" los. Hinweis: "Der Eierlikör geht aufs Verlagshaus, gell!"

Ohne Licht: Digital ist der Anfang von Hugh Howeys "Silo" längst ein Bestseller. Seit dieser Woche gibt es den SciFi-Thriller auch gebunden beim Piper-Verlag. Der Autor hat anfangs nur eine kleine Kurzgeschichte als eBook verlegt. Dann fand das Teil so viele Leser, dass er die Geschichte über Menschen, die jahrelang unter der Erde gelebt haben, auf 534 Seiten ausbaute. In den USA verkaufte sich der Roman eine Million Mal. "Alien"-Regisseur Ridley Scott hat sich inzwischen die Filmrechte gesichert.

Kostenlos mit Applaus: Der Lesebühnenverlag Voland & Quist haut zur Leipziger Buchmesse ein E-Book mit den besten Texten von Ahne, Julius Fischer, Kirsten Fuchs, Marc-Uwe Kling, Volker Strübing und anderen Helden raus. Hier kannst du es für lau runterladen.

http://www.youtube.com/watch?v=QWBup_wvyuk

Keine Kohle, keine Visionen, der Sommer macht einen sowieso träge. Der Kinofilm "Sommer vorm Balkon" von Andreas Dresen klingt nicht nur wie Isabella Straubs Romandebüt, sondern kommt mit ähnlichem Verve daher.


Text: jan-drees - Illustration: Katharina Bitzl

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