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Hanna, Tim und die vielen Anläufe

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Hanna, 22, studiert in Berlin Publizistik, Psychologie und Politik. (Wieder) zusammen mit Tim seit einem Jahr. Aber eigentlich schon seit drei. Und ganz eigentlich waren sie schon einmal in der neunten Klasse zusammen. In der siebten Klasse, als alle auf das Gymnasium wechselten, war Tim wie jeder andere Typ aus der Klasse: ziemlich uninteressant. Oder zumindest wesentlich uninteressanter als alle Jungs aus höheren Stufen. Er hörte viel Eminem, trug Baggypants und immer die gleiche dunkelgrüne Jacke. Er sah weder älter aus als andere, noch besser. Wenn wir bei "Wahrheit oder Pflicht" die Top-Five der Jungs aus der Klasse benennen mussten, war Tim trotzdem stets meine Nummer Eins. Ihm warf ich die meisten Zettelchen im Unterricht zu - und auch die meisten Blicke bei der Schuldisco, diesen Charts-beschallten drei Stunden Erwachsensein einmal im Monat, von 18 bis 21 Uhr. Zusammen getanzt haben wir natürlich nie, wippten höchstens ein bisschen mit, jeder in der Sicherheit seiner gleichgeschlechtlichen Grüppchens. Und gingen trotzdem ganz beflügelt nach Hause.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ender der siebenten Klasse wären Tim und ich um ein Haar ein Klassenpaar geworden, aber dann lernte ich Chris kennen, im lokalen Chat. Er war drei Jahre älter und fast mit der Realschule fertig. Bei Tim fühlte ich mich wohler, er hat mir wunderschöne Gedichte geschrieben und mich immer zum Lachen gebracht, selbst in blödesten Situationen. Aber damals galten andere Kriterien: Chris hatte ja fast schon den Führerschein. Und eine Art Bart. Tim hat es mir sehr übel genommen und ist mir ein ganzes Schuljahr lang aus dem Weg gegangen. Bis zu der Klassenfahrt nach London. Tim und ich saßen auf der Busfahrt nebeneinander, kuschelten, wenn um uns herum dunkel war und waren eine Woche lang ganz gruppendynamisch ineinander verliebt. Nach der Englandfahrt hat mir Tim eine Liebeserklärung im Unterricht zugesteckt, halb Rap, halb Gedicht. Er ist wahrscheinlich Stunden lang mit dem Wörterbuch daran gesessen. "You're the most beautiful and sexiest girl, I ever have met or will meet in this world. The day I meet a better girl and my opinion will turn, hell will be frozen and heaven will burn. But to reach this unreal, apocalyptical day, you have to take a trip down an endless, eternal way. And no matter all the bad things, that we left behind, I still feel the same way, I haven't changed my mind. So don't be scared of me and try, cause I think that it's worth it!" Ich habe mich aber nicht getraut. Ich blieb bei meinen Freund, Tim ging wieder auf Distanz. Erst Ende der Neunten, als Schluss war und eine Menge Partysekt im Spiel, kamen Tim und ich uns näher. Zwei Wochen lang waren wir ein Paar, dann kehrte ich zu meinem alten Freund zurück. Tim war so verletzt, dass ich dachte, es wird nie wieder gut. Erst in der Oberstufe wurde es ein bisschen besser. Ich hatte einen neuen Freund, Tim eine neue Freundin, eine Zehntklässlerin. Jedes Mal, wenn ich sie auf dem Schulhof turteln sah, bekam ich schlechte Laune, obwohl ich genau wusste, dass es mir nicht zusteht. Einmal im Deutschunterricht – Tim und ich waren Banknachbarn - habe ich mir sein Handy gekrallt. Als ich es aufklappte, schaute mich die Zehntklässlerin an, sie war der Bildschirmschoner. Das hat mir einen sehr schmerzhaften Stich versetzt, aber tief im Inneren habe ich gewusst: Das kann nicht von Dauer sein. Weil wir zwei füreinander gemacht waren. Erst in unseren letzten Sommerferien haben wir zueinander gefunden. Ich habe Tim nach der Disco heimgefahren, aus dem Abschiedsbussi wurde ein Abschiedskuss. Und der dauerte bis sieben Uhr morgens. Wir hatten das Radio angelassen und als ich morgens losfahren wollte, war die Batterie leer. Tim hat mir sein Fahrrad geliehen und ich bin nach Hause geradelt, übernächtigt, glücklich, frei. Seitdem haben wir alles geteilt: Hausaufgaben, die Aufregung beim Abitur und wieder den Bussitz bei der Abschlussfahrt. Seit ein paar Monaten auch eine Wohnung. Außer uns hat keins der Oberstufenpaare das Abitur überlebt, sie haben es nicht geschafft, ihre Liebe aus dem Biotop der Schule zu exportieren. Auch wir sind fast daran kaputt gegangen. Nach der Schule habe ich sofort zu studieren angefangen, Tim wurde nirgendwo angenommen und war deshalb sehr genickt. Er war so in sich gekehrt und lustlos, dass er alles hat schleifen lassen, auch unsere Beziehung. Ich hätte gerne mit ihm darüber geredet, aber er hat mich nicht mehr ran gelassen, weil er sowas lieber mit sich selbst ausmacht. Irgendwann konnte ich nicht mehr und bin gegangen. Lange habe ich es nicht durchgehalten, dann habe ich gemerkt: In meinem kurzen Leben habe ich so viele Idioten gehabt, dass ich genauso gut bei meinem liebsten von den Idioten bleiben kann. Ich pass' mit meinem Kopf perfekt in seinen Arm, das wird bei keinem anderen Mann so bequem sein. Auf der nächsten Seite erzählt Tim von Hanna, der Schule und der Chat-Bekanntschaft.


Tim, 22, studiert Betriebswirtschaftslehre, Fachrichtung Industrie in Berlin. Mädchen fand ich nie doof, nicht einmal in der Grundschule. Mädchen waren sogar richtig interessant, wenn auch etwas angsteinflößend. Zum Beispiel Hanna. Sie sah schon viel reifer aus als alle anderen aus der Klasse und obwohl sie immer sehr aufgeschlossen und nett war, habe ich mich nie so recht getraut, mit ihr zu reden. Ich war so eingeschüchtert, dass ich mir nicht einmal einzugestehen wollte, dass ich in sie verknallt war. Diese Erkenntnis kam durch eine Hintertür: Wenn Hanna davon erzählte, dass sie irgendwelche Jungs im Chat kennengelernt hatte, hat mich das furchtbar gestört. Ich war eifersüchtig, also muss ich wohl verliebt gewesen sein. Ich bin dann in denselben Chat und habe mit Hanna geschrieben. Das fiel mir leichter, wegen der Distanz und weil ich mir besser überlegen konnte was ich sage und wie. Dann kamen die ersten Handys und ich habe in den Osterferien mein gesamtes Taschengeld mit ihr versimst. Als ich aber aus dem Osterurlaub mit den Eltern zurück kam, war Hanna schon mit einem älteren Typen zusammen, einem Realschüler aus "unserem" Chat. Das war natürlich wie ein Schlag ins Gesicht. Die Geschichte hat sich im Laufe der Schulzeit ein paar Mal wiederholt. Wenn ich es mir im Nachhinein anschaue, stand ich eigentlich immer da wie der Depp vom Dienst: Immer kam mir jemand zuvor. Nach der Chatgeschichte bin ich Hanna aus dem Weg gegangen, aber irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich war ja immer noch in sie verliebt. Das war ein klassisches Gefühlsdilemma: Einerseits war ich richtig sauer auf sie und litt tierisch an Eifersucht, konnte ihr aber doch nicht fern bleiben. Hannas Nähe wog alle Qualen auf. Kam ich ihr aber zu nah – endete der Spuk unvermeidlich im Herzschmerz. Das wusste ich schon vorher, habe mich aber trotzdem immer wieder verbrannt. Eigentlich ist meine gesamte Schulerinnerung von Auf und Abs mit Hanna geprägt: Einmal in der Achten, dann wieder in der Neunten. Immer wenn ich mich kurz vor dem Ziel wähnte, wurde ich mehr oder weniger wortlos abserviert. Und jedes Mal dachte ich: Jetzt ist Schluss, jetzt gibt es endgültig nichts mehr zu kitten. In diesen Momenten habe ich sie sogar kurz gehasst, wurde dann aber trotzdem wie eine Motte vom Licht angezogen. Irgendwann habe ich mich mit der Situation abgefunden, habe mich sogar ernsthaft in eine andere verliebt. Die Gefühle für Hanna wurden wie ein dumpfer Zahnschmerz, an den man sich nach einer Weile gewöhnt. Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben und mich mit ihrer Freundschaft zufrieden gegeben. Und genau in dem Moment habe ich gemerkt, dass Hanna ziemlich eifersüchtig auf meine damalige Freundin war. Und mir gegenüber alles andere als gleichgültig. Als ich wir in dem Sommer zwischen der zwölften und dreizehnten Klasse zusammen kamen, war es das höchste anzunehmende Glück. Diesmal spürte ich: Das ist nicht nur für eine kurze Zeit, das ist echt. Wir haben uns beide verändert, sind beide erwachsener und reifer geworden. Das Warten hatte sich endlich ausgezahlt. Zuerst dachte ich, ich würde mich nie an dieses Glück gewöhnen, würde nie mehr aufhören können zu lächeln. Aber so ist das im Leben: Euphorie wird zu stillem Glück, stilles Glück zu Zufriedenheit, Zufriedenheit zu Selbstverständlichkeit und dann zu Gewohnheit. Ich strenget mich nicht mehr an, wurde bequem weil ich dachte: Hanna wird für immer da sein. Nach dem Abi war ich quasi arbeitslos, ziemlich down deswegen und so egoistisch in meinem Unglück, dass ich nicht einmal merkte, wie Hanna sich immer mehr von mir entfernte. Sie hat mich wieder für einen anderen verlassen, diesmal ganz verdient. Viele denken, ich müsste sauer auf sie gewesen sein, aber eigentlich bin ich ihr dafür dankbar: Sonst hätten wir vielleicht nie gemerkt, wie viel wir einander bedeuten. Wenn mir jemand anders meine Geschichte erzählen würde, würde ich denken: Der ist aber schwer von Begriff. Vier Mal absolviert und immer noch dran geblieben. Jeder anderer hätte es viel schneller kapiert. Hab ich aber nicht. Und das war eigentlich das Beste, was mir passieren konnte.

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