Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Louise, Paul und der letzte erste Kuss ihres Lebens

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Louise, 22, studiert in Osnabrück. Wenn ich gewusst hätte, dass dieser Kuss der letzte erste Kuss meines Lebens sein würde, hätte ich sicher besser aufgepasst. Damals habe ich es natürlich nicht ahnen können. Ich fand es einfach nur aufregend, dass ein älterer Junge mich gut fand. Paul war 18 und fuhr einen Toyota Corola in Silber. Ich war 14 und dachte: So einer interessiert sich nie für dich. Auf den Jugendbezirkstagen tat er es dann doch. Nach dem Abendprogramm krochen alle in ihre Schlafsäcke, wir schlichen wir uns aus dem Gemeindehaus in sein Auto. Es war dunkel, die Frontscheibe beschlug, dicke Regenwürste liefen herunter. Im Hintergrund dudelte irgendwas von Dido, "Here with me", glaube ich. Irgendwann ging die Sonne auf. Für mein vierzehnjähriges Ich war die Nacht das Nonplusultra an Romantik.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wir haben oft versucht zu rekonstruieren, was danach passierte: Haben wir telefoniert? E-Mails geschrieben? Waren wir überhaupt verliebt? Es fällt uns schwer, uns daran zu erinnern, wie es vor dem Wir war. Oder an laute Zeiten zwischen uns. Paul und ich sind schon so lange eine Einheit, dass es uns vorkommt, es sei es schon immer so - vertraut, eingespielt, ruhig. Natürlich waren wir verliebt, wir sind es immer noch. Aber es ist kein Paukenschlag. Unsere Liebe ist eher die Melodie, die sich durch unser Leben durchzieht. Wie soll das auch sonst gehen: Acht Jahre lang dauerverknallt? Es ist anders. Und es ist mehr. Viel haltbarer. Dabei war Ewigkeit nie geplant, die Ewigkeit kam schleichend. Plötzlich war ein halbes Jahr rum, dann zwei, dann vier. Irgendwann mussten wir nachrechnen. Vielleicht hält unsere Beziehung deswegen so lang, weil wir nicht von Anfang an annahmen, es sei für immer. Meine Eltern ahnten es wahrscheinlich früher als wir selbst. Sie hatten von Anfang an ein gutes Gefühl. Die erste Nacht in unserem Haus musste Paul zwar noch bei meinem Bruder verbringen, aber schon beim zweiten Besuch wurde eine Anstandsmatratze für ihn in mein Zimmer gelegt. Dass sie unbenutzt blieb, war wohl allen Beteiligten klar. Nach ein paar Monaten fragte Papa, ob er das schwere Stück wirklich jedes Mal aus dem Kabuff holen müsse. Ein Doppelbett haben mir meine Eltern aber nicht geschenkt. Sechs Jahre lang quetschten Paul und ich uns auf einem 90 cm breitem Hochgestell aneinander - und es hat sich nie nach Quetschen angefühlt. Verglichen zum Hochbett war eine gemeinsame Wohnung keine Herausforderung in Sachen Nähe. Nach meinem Abi zogen wir zusammen. Ich habe ganz größenwahnsinnige Pläne für die Einrichtung gehabt. Paul blätterte mit mir die Kataloge und lächelte Sofagarnituren weg: "Dann, wenn wir heiraten." Der Satz wurde zur festen Floskel, zum Spaß, der keiner war. Wie ernst er das meinte, war mir damals nicht bewusst. Kurz vor Silvester 2006 fuhren wir in mein Heimatörtchen. Auf der Hälfte der Strecke fluchte Paul aus heiterem Himmel, und fragte, ob wir umdrehen können. "Na, hast die Ringe vergessen?" fragte ich. Er guckte wie ein Fisch aus der Wäsche, sagte aber nichts. Wir fuhren schweigend weiter. Fünf Minuten später vergaß ich die Episode. Am ersten Januar kamen wir spät am Abend zurück nach Osnabrück. Ich lag schon im Bett, abgeschminkt und mit geputzten Zähnen, als Paul zu mir schlüpfte. Diesmal hatte er die Ringe dabei. Lies auf der nächsten Seite, wie sich Paul an den Beginn der Liebe erinnert.


Paul, 26, Landschaftsgärtner und Student in Osnabrück "Habe Pizza gerochen. Krieg ich auch was?" Zwei nutellafarbende Augen schauten mich und mein Abendessen herausfordernd an und zweifelten nicht eine Sekunde daran, dass sie das bekommen würden, was sie wollten. Eine ziemliche mutige Annahme, wenn man bedenkt, dass das dazugehörige Mädchen ein paar Köpfe kleiner war als ich. Sie hat sich aber so selbstsicher in diesem Partykeller bewegt, war so unaufdringlich und trotzdem präsent, dass alle zu ihr aufgeschaut haben. Dabei war Louise vier Jahr jünger als ich und die meisten Gäste auf der Silvesterparty. Damals habe ich das noch nicht gewusst. Wer weiß, ob ich sonst die Hälfte meiner Pizza abgetreten hätte? Ein paar Wochen später sahen wir uns bei Bezirksjugendtagen wieder. Da wusste ich schon, dass sie 14 und die Tochter des Gemeindepastors war. Und dass ich sie trotzdem haben wollte. Als alle schlafen gingen, haben wir uns in mein Auto verdrückt. Ich weiß nicht mehr, ob Louise die Initiative ergriff, oder ich, und wie das Küssen überhaupt angefangen hat. Das ist auch nicht entscheidend. Entscheidend ist ja, wie man sich verabschiedet. Was ist schon ein Kuss im Auto? Am nächsten Morgen hätte ich das Ganze als nette Episode abtun können, ohne als Bösewicht dazustehen. Ich musste ganz früh zur Arbeit, eigentlich hätte ich einfach fahren können, ohne dass jemand etwas bemerkt hätte. So bin ich aber nicht, so bin ich nie gewesen. Auch nicht mit 18. Zum Abschied habe ich Louise vor dem Gemeindehaus geküsst – und alle schauten zu. Sechs Jahre später haben wir den Kuss fast an selber Stelle wiederholt, nur dass uns diesmal bewusst war, dass es für immer war. Damals habe ich das noch nicht geahnt. Wer weiß, ob ich sonst…? Höchstwahrscheinlich hätte ich genau das Selbe getan. Ich hatte nie Angst vor Endgültigkeit, oder davor, etwas zu verpassen. Die Hochzeit hat nichts damit zu tun, dass ich Louise an mich binden will, oder Angst vor mir selbst habe, oder dem Zuviel der Möglichkeiten. Unsere Entscheidung hat nichts mit Furcht zu tun: In einer Welt, in der es darum geht, sich möglich viele Optionen offen zu halten, gehört mehr Mut dazu, sich auf eine einzige festzulegen. Ich finde es richtig, dass zwei Menschen ihre Liebe unter den Schutz Gottes stellen und sich zueinander bekennen. Natürlich gibt es auch Einschränkungen: Eine spontanes Auslandsjahr ist zum Beispiel nicht drin. Wir sind kein Paar mehr, wir sind eine Familie. Und müssen daher mehr Rücksicht aufeinander nehmen. Unsere Freunde und Familie haben uns immer unterstützt, ja, sie haben es fast erwartet, dass wir heiraten. Louises Eltern haben schon vor Jahren einen Spitzenschirm aus dem Frankreichurlaub mitgebracht, als Accessoire zum Hochzeitskleid. Wir selbst? Ich glaube, ich habe den Gedanken an die Hochzeit länger mit mir rumgetragen als Louise. Und habe den perfekten Antragsmoment verbockt. Ich hatte die Ringe so gut im Schrank versteckt, dass ich vergessen habe, sie mitzunehmen, als wir in unseren Heimatort gefahren sind. Wir wollten Silvester feiern, in jenem Partykeller, wo wir uns kennen gelernt hatten. Die dramaturgische Klammer hat dann leider nicht geklappt. Aber es war auch so schön. Jetzt hat unsere Liebe den „offiziellen“ Segen Gottes. Und Louise einen neuen Nachnahmen. Ansonsten hat sich nach der Hochzeit nicht viel geändert. Wenn es so weiter läuft, haben wir keine Angst vor der Zukunft. Kinder? Das kann ich jetzt noch nicht ahnen. Aber wer weiß?

Text: wlada-kolosowa - Illustration: Katharina König

  • teilen
  • schließen