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Anne und ihre Jobs: Als ich die Fee der Wörter war

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Hildesheim, Sommer 2005, erster Ferientag. In den Semesterferien flogen die meisten Studenten aus und der Altersdurchschnitt stieg schlagartig an. Ich mochte diese Zeit, denn da man nicht mehr an jeder Straßenlaterne einem bekannten Gesicht begegnete, fühlte sich Hildesheim irgendwie größer an. Ich wollte die seltene freie Zeit zum Schreiben nutzen. In den stressigen Wochen davor hatte ich mir nichts Besseres vorstellen können! Nicht einmal ein Freiticket nach Aruba wäre verlockender gewesen. Bereits um fünf Uhr morgens saß ich am Schreibtisch, um so richtig loszulegen. Doch das weiße Papier war ungnädig. Es blieb blank – und demonstrierte neben dem kreativen Tief höchst unsensibel meine Finanzlage. Mein Freund hatte sich ebenfalls schon wochenlang auf die Ferien gefreut. Endlich hätten wir mal so richtig Zeit füreinander! Doch ich konnte nur ans Schreiben denken. Das wurde zur Besessenheit. Stunde um Stunde starrte ich auf das Blatt. Unterbrochen nur von kleinen Spaziergängen zu Alberts Kiosk, um mich mit Schlümpfen und Kaktuseis einzudecken. Von Tag zu Tag wurde ich unleidlicher. Bald ging ich allabendlich in Rasputins garagengroße Bar gegenüber, für das Frustgetränk. Egal, wie früh ich aufstand, ich brachte nichts zustande. Jedes gute Buch in meinem Regal wurde zu einem Vorwurf. Als hätten sie kleine Augen, die mich anglotzten und sagten: 'Pah! Du? Guck nur, dein Papier ist ja immer noch leer!' Wenn ich einmal eine Idee hatte, wurde sie von den Vorwurfsaugen sofort niedergestarrt. Mein Freund fand mich ätzend. Und ich mich erst! Er meinte, ich könnte mich doch jetzt mal zurücklehnen und entspannen. Es war das erste Mal seit langem, daß ich nicht irgendeinen Job oder ein Praktikum machte oder unglaublich viel für die Uni zu erledigen hatte. Und doch konnte ich die freie Zeit nicht genießen. Außerdem brauchte ich Geld. Ich erinnerte mich an ein Jobangebot, das ich bekommen hatte: Märchenschreiben mit Kindern auf einem Literaturfestival. Ich suchte den Kontakt heraus, rief dort an und machte einen Termin aus.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Mein Freund war rührend. Er kam vorbei, er kochte, schleppte mich nach längeren Phasen im Dämmerzustand ans Tageslicht. Doch ich freute mich gar nicht mehr über die Besuche. Er kam ja sowieso jeden Tag. Mit dem Schreiben klappte es nicht, und bequemerweise gab ich ihm die Schuld dafür. Er lenkte mich ab. Dauernd wollte er was, dauernd war er da, verlangte nach Aufmerksamkeit – so konnte man ja nicht in Ruhe arbeiten! „Fang halt einfach mal mit irgendwas an,“ sagte er, „dann geht der Rest ganz von selbst.“ Ich schrieb ein paar Wörter: Besserwisser, Miesepeter, Arschgeweih. Dazu hatten wir beide nichts mehr zu sagen, und das ziemlich lange Zeit. Wenigstens bei den finanziellen Sorgen war Linderung in Sicht – mein Vorstellungsgespräch verlief gut, und ich hatte den Job in der Tasche. Also las ich Märchenbücher und arbeitete Konzepte für Kinder aus. Wie hatte ich die Geschichten vergessen können!? Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, die Schneekönigin, Peterchens Mondfahrt. Bei all den Geschichten hatte ich das Gefühl, sie schon einmal selbst erlebt zu haben. Ich vergrub mich in die Märchen und sagte meinem Freund immer häufiger ab. Nach drei Wochen saß ich in einem überdimensionalen Zirkuszelt und wartete auf die Ankunft einer Gruppe Kinder im Alter von 9-10 Jahren. Dann kamen sie hereingestolpert. Eine Horde. Eine laute, irrwitzige, aktive Horde. Worauf hatte ich mich da bloß eingelassen? Doch ich war gut vorbereitet. Die nächsten Stunden vergingen rasant. Ich erzählte ihnen Geschichten-Enden und sie mußten herausfinden, was geschehen war. Wir verwandelten uns alle in Elfen, Zwerge und – das war nicht meine Idee – in Seegurken. Geschichten wurden gemeinsam gesponnen. Wenn jemand nicht weiterwußte, kam er zu mir gerannt, sagte einen Zauberspruch, und konnte aus meinem Zauberhut einen Zettel ziehen. Wahlweise mit einem Ort, einer Person, oder einem magischen Gegenstand versehen. Die Geschwindigkeit war atemberaubend. Vor allem aber beeindruckte mich die Unvoreingenommenheit der Kinder beim Erfinden. Da spielten Dinge wie Erzählperspektive, Plot und Sprache erst einmal keine Rolle. Die Ideen sprudelten, es wurde gelacht, und gegruselt und der Atem angehalten und am Ende das Böse besiegt! Ich erinnerte mich plötzlich wieder daran, mit welchem Anspruch ich früher geschrieben hatte. Als ich vom Literaturbetrieb noch nichts ahnte und das reine Erzählen im Vordergrund stand. Und der Spaß an der Sache. Die Phantasie war mir flöten gegangen. Und jeder, der einmal Blockflötenunterricht hatte, weiß, daß das meist kein Vergnügen ist. Weder für den, der spielt, noch für den, der zuhören muß. Abends war ich völlig erledigt von all den Kinderstimmen und den bestandenen Abenteuern. Trotzdem konnte ich mich wieder an den Computer setzen – und die Wörter kamen von ganz allein. Das Endergebnis und ob und wo es gedruckt werden würde, hinderte mich jetzt nicht mehr am Schreiben, sondern rückte in den Hintergrund. Und spielte dort nicht nervtötend Blockflöte, sondern verhielt sich angenehm still. Drei Tage würde der Workshop noch dauern. Ich sagte meinem Freund, daß wir uns erst am Wochenende sehen könnten, da ich gerade jeden Abend am Schreibtisch säße. „Na gut“, sagte er, klang aber enttäuscht. Da machte ich ihm ein Angebot. Ich sagte ihm, ich käme ihn das ganze Wochenende besuchen. „Ja, klar. Und dann sitzt du hier an deinem Computer, oder verschwindest doch zwischendrin nach Hause.“ „Nein, ich schwöre. Paß auf, wir machen es so: Ich komme dich einfach von weit her besuchen. Ich bleibe das ganze Wochenende und du zeigst mir deine Wohnung und deine Stadt.“ „Versteh ich nicht.“ „Also, ich komme am Freitag um 16:23 Uhr am Bahnhof an. Gleis 2. Und zurückfahren muß ich erst am Montag, um 17:04 Uhr. Wir haben das ganze Wochenende, und ich bin noch nie in Hildesheim gewesen.“ „O.k.“, sagte mein Freund zögernd. „Ich freu mich. Holst du mich ab?“ „Klar. Freitag, 16:23 Uhr, Gleis 2.“ Wir legten auf. Nach drei weiteren Tagen voller Elfen, Zwerge, Seegurken und anderem Gewese und einigen Seiten voller Geschichten packte ich am Freitag mittag meine Tasche. Ich legte alles hinein, was ich für einen Urlaub brauchen würde. Und ich war in Ferienstimmung und freute mich auf meinen Freund. Als ich mit meiner Tasche am Bahnhof ankam, ging ich nach oben aufs Gleis 2, setzte mich auf die Bank und wartete auf ihn. Das erste Mal seit langem hatte ich mal wieder positives Herzklopfen.

Text: anne-koehler - Illustration: Katharina Bitzl

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